Jones, Diana Wynne
Herrenhaus und wurden durch eine kleine Tür hineingeführt. Hildy entspannte sich ein wenig. Die kleine Tür bedeutete wohl, dass sie Gefangene waren. Also wusste niemand, wer sie war. Hildy freute sich, denn schon bald könnte sie hier einiges berichtigen. Mitt war sich nicht so sicher, ob ihm sein Status als Gefangener gefiel. Ihm war zu unklar, was eigentlich vor sich ging. Doch schien er nur abwarten zu können, was geschah.
Taumelnd und stolpernd gingen sie eine flache Steintreppe hinauf und erreichten einen sonnigen Absatz. Dort mussten sie warten, während einer der Männer ging und an eine Tür klopfte. Dann – Bamm! Irgendwo hatte es laut geknallt. Die Fenster klirrten. Die drei zuckten erschrocken zusammen, und Mitt war plötzlich am ganzen Leib von kaltem Schweiß bedeckt. Eine fast genauso schreckliche Angst wie damals im Sturm war ihm in die Glieder gefahren. Der große Mann indes zuckte mit keiner Wimper und unterbrach sein Türklopfen nicht einmal. Durch die Tür drang ein Laut, der durchaus eine Stimme sein mochte. Der große Mann öffnete die Tür.
»Sie sind hier. Soll ich sie hineinbringen?«
»Wenn du so gut wärst«, sagte jemand von drinnen.
Der Mann machte eine ruckartige Kopfbewegung. Hildy, Ynen und Mitt gelangten durch die Tür in einen sonnendurchfluteten großen Raum, in dem es nach Essen und nach Pulverrauch roch – eine eigenartige Mischung, wenngleich nicht so angenehm wie die vermengten Gerüche von Meer und Inseln. Der Essensgeruch kam vom Tisch neben der Tür. Davor saß Al rittlings auf einem Stuhl, den Lauf von Hobins Büchse hatte er vor sich an die Lehne gelehnt. An der gegenüberliegenden Seite des Zimmers stand noch ein Tisch mit einer Reihe von Flaschen, auf denen jemand Tassen aufgestapelt hatte. Eine Flasche lag in Scherben. Kaum war die Tür wieder zu, schoss Al erneut, ein ohrenbetäubender Knall. Eine Tasse flog auf und zerbarst, und es ertönte schallendes Gelächter.
»Komme schon ganz gut mit dieser mistigen Kanone zurecht, Lithar«, sagte Al.
»Das wird auch Zeit«, entgegnete Benk, der Kapitän der Weizengarbe. Er saß auf einem Stuhl am Fenster und aß einen Apfel.
Der dritte Mann sagte: »Ach, Al! Wie hatte ich es vermisst, dich so schießen zu sehen!«
Lithar trug beinahe so prächtige Kleidung wie Harchad, aber er machte längst nicht solch eine gute Figur darin. Er hatte einen Wust hellen Haars über dem braunen Gesicht eines Inselbewohners und ein langes, ein furchtbar langes Kinn. Er wirkte recht gut gebaut, aber er saß befremdlich zusammengekauert, sodass seine Kleidung in alle Richtungen Falten warf. Ynen, Hildy und Mitt hätten nicht sagen können, wie alt er war, denn sein Gesicht zeigte eigenartige Runzeln und wirkte alt und jung zugleich. Fast wie bei Mitt, dachte Hildy und warf ihm einen Blick zu, um die beiden miteinander zu vergleichen. Mitt war jedoch jung und unterernährt, während Lithar…
Hildy überfiel ein Schauder. Lithar war fast schwachsinnig. Ihr war, als fielen ihre gesamte Zukunft und ihre gesamte Vergangenheit von ihr ab und ließen nur sie selbst zurück – ein kleines Mädchen mit zerzaustem Haar, ganz allein in einem sonnigen, raucherfüllten Zimmer. Hildy war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie auf Lithar und die Heiligen Inseln gebaut hatte. Doch nun schien es ihr, als ruhte darauf alles, was sie von ihren Basen unterschied und zu Hildrida machte. Ihr Fehler war es nicht, trotzdem hatte sie das Gebäude errichtet, und nun stellte es sich als unwirklich heraus; es war nicht etwa plötzlich verschwunden, es hatte nie existiert.
Mitt bemerkte es sofort. Er sah Lithar an, er sah Hildy an, und dann wusste er, dass Hildy die gleiche Entwurzelung erfuhr wie er in Holand. Nur hatte er es damals nicht zugegeben. Alles, von dem er geglaubt hatte, es mache Mitt aus – den furchtlosen Jungen mit der freien Seele, den rechtschaffenen Freiheitskämpfer –, war damals zerfallen wie Canden in seinem Traum oder der Alte Ammet im Hafen, und er war mit dem zurückgeblieben, was wirklich war. Und das hatte ihn zu Tode geängstigt. Mitt dachte, er müsse genauso blassgelb im Gesicht sein wie Hildy. Ich hoffe, die beiden sind nicht so dumm zu sagen, wer sie wirklich sind, dachte er. Wir müssen weiter nach Norden, und zwar so schnell es geht.
»Wer seid ihr?«, fragte Lithar und wedelte überrascht mit seinem langen Kinn.
Mitt und Ynen öffneten gleichzeitig den Mund, um gleichzeitig mit zwei falschen Geschichten zu beginnen, die
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