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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Erde bebt
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wimmelnden Würmern und Maden zu neuem Leben zu erwachen. Aber wir können es uns nicht immer aussuchen.
    Eine leichte, aber scharfe Brise biss mir in die Lippen und trieb mir die Tränen in die Augen. Ich sah in den Himmel. Krähen kreisten und krächzten über mir wie böse Vorzeichen. Eine flog herunter und landete mit einem Stück weißer Pappe im Schnabel neben mir. Im ersten Moment dachte ich, sie überbrachte mir eine Botschaft, aber sie würdigte Lucy Fly keines Blicks und machte sich sofort daran, die Pappe zu zerhacken und auseinander zu reißen. Ich erkannte, dass es ein Stück einer Zigarettenschachtel war, und kam mir blöd vor. Das schwarze Auge des Vogels funkelte in jede Richtung, nahm von mir aber keinerlei Notiz. Sobald sie das Silberpapier herausbekommen hatte, ließ die Krähe den platt gedrückten Rest liegen und flog auf in den Himmel. Als sie sich wieder den anderen anschloss, verlor ich sie aus den Augen.
    Ich wollte zu meiner ersten Probe nicht zu spät kommen, und so packte ich das Cello wieder beim Genick und machte mich auf den Weg durch die engen Straßen. Ich folgte den exakten Anweisungen, die Natsuko mir gegeben hatte, und war auch bald am Ziel. Ich öffnete das Tor zu einem zweigeschossigen Haus mit einem kleinen bemoosten Garten. Die Fassade des Hauses war mit Blauregen überwachsen. Die herabhängenden Blätter bedeckten den Türrahmen. Ich schob sie beiseite, um die Klingel zu finden, und freute mich darauf, ein richtiges Haus zu betreten. Seit Monaten war ich immer nur in Mietwohnungen und Büros gewesen, und ich sehnte mich nach der traulichen Gemütlichkeit eines richtigen Hauses.
    Frau Yamamoto öffnete die überdachte Tür und strahlte. Sie hatte kurzes Silberhaar und eine kleine runde Brille. Sie war groß und schlank.
    «Ojama shimasu», sagte ich. Ich störe Sie. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und folgte ihr in das Tatami-Zimmer.
    Zwei Frauen mittleren Alters knieten am anderen Ende eines niedrigen Tisches. Die Sonne schien durch das Fenster hinter ihnen herein. Die Frau zur Linken sprach als Erste. Sie war untersetzt und hatte ein rundes Gesicht und eine Topfschnittfrisur.
    «Konnichiwa. Ide to moushima.» Sie lächelte strahlend.
    «Hajimemashite »; sagte ich und neigte leicht den Kopf. Die andere Frau lächelte nervös und verbeugte sich.
    «Katoh desu. Yoroshiku onegai shimasu.»
    Sie war klein und hatte krauses graues Haar und etwas von einem Vogel an sich. Ihre Blicke schossen unablässig zwischen uns anderen hin und her, und mit der Zeit merkte ich, dass das ihr normales Verhalten war. Außer wenn sie auf ihrer Bratsche spielte, schaffte sie es nicht, ihren Blick länger als ein paar Sekunden auf einem Menschen oder Ding ruhen zu lassen, ohne anzufangen, nach jeder Äußerung und Geste ein nervöses Kichern auszustoßen.
    «Lucy desu», sagte ich. «Lucy Fly. Fly Lucy. Yoroshiku onegai shimasu.»
    Ich kniete mich auf die Tatami. Sie war weich und duftete sommerlich nach Gras und Staub.
    Frau Yamamoto servierte uns auf einem Lacktablett grünen Tee und mit süßer Bohnenpaste gefüllte rosa Küchlein. Wir saßen schweigend da, während Tassen und Teekanne leise klirrten, Tee in die Tassen floss. Die Stille war für mich ein gutes Vorzeichen. Ich freute mich schon auf das Vergnügen, mit Menschen zusammen zu sein, ohne unter dem Druck zu stehen, unentwegt reden und zuhören zu müssen.
    Ich war noch nicht lange genug in Japan, um den bitteren Geschmack des Tees und die widerliche Süße der Bohnenpaste schätzen zu können. An diesem ersten Tag kostete mich jeder Mund voll Überwindung. Aber im Laufe der folgenden Wochen begann ich, den süß-bitteren Geschmack mit reinem wortlosem Genuss zu assoziieren. Irgendwie nahm dieser Geschmack auch den Geruch der Tatami und des Kolophoniums in sich auf, und ich kann ihn noch immer auf der Zunge wieder finden. Ich gewöhnte mich daran, den weichen Kuchen mit meinem Holzspatel zu zerteilen, ihn scheibchenweise, zwischen kleinen Schlucken heißen Tees, zu essen und mich auf Stunden gemeinsamen Musizierens zu freuen.
    Am ersten Sonntag wunderte ich mich, als Frau Ide und Frau Katoh, sobald sie ihren Tee ausgetrunken hatten, begannen, die Tassen eingehend zu betrachten. Dann begriff ich, dass es höflich war, sich so zu verhalten, und tat es ihnen nach. Die Tassen waren alle verschieden. Frau Yamamoto hatte eine ganze Sammlung. Als ich meine Tasse ins Licht hielt, glitzerten Goldstäubchen auf, und ich musste lächeln. Ich

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