Jordan, Penny
nicht, dass du die Geliebte irgendeines Mannes wirst. Vergiss nicht, dass mein Geist immer bei dir sein wird.“
Heiße Tränen fielen auf ihre kalten Hände, als sie Rachel von sich schob. Rachel verlor den einzigen Menschen, dem sie etwas bedeutete. Doch wenn sie blieb, würde der Stamm sie vertreiben, und die Schulbehörde würde sie in ein Heim stecken. Naomi hatte recht – sie musste fort.
Abwechselnd zitternd und weinend fand Rachel die kleine Geldsumme. Sie beugte sich zu Naomi hinab, küsste ihre Wange und murmelte die stillen Abschiedsworte der Roma. Sie würde nicht dabei sein, wenn der Scheiterhaufen der Großmutter brannte, und sie würde ihrem Geist nicht ewige Ruhe wünschen können.
Naomi öffnete die Augen und bemerkte die Unentschlossenheit im Gesicht der Enkelin. Sie sammelte ihre letzten Kräfte und ergriff Rachels Hand. „Geh jetzt … Geh mit meinem Segen, mein Kind … Geh.“
Seit sie lesen konnte, hatte Rachel erkannt, dass der Weg aus der Armut nur über eine ordentliche Ausbildung führte. Jetzt zog es sie wie unzählige Tausende vor ihr zu den goldenen Türmen von Oxford.
Viele Male war sie mit dem Stamm durch diese Stadt gekommen. Aber sie wusste nichts von den Tabus und Sitten, die hier herrschten und die ebenso streng und einengend waren wie die ihres eigenen Volkes.
Rachel erreichte Oxford im Spätsommer 1979, kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Sie war fast immer zu Fuß gewandert und hatte die alten Wege der Zigeuner benutzt. Behutsam hatte sie das Geld von der Großmutter aufgestockt, indem sie gelegentlich Arbeit entlang des Weges annahm, vor allem auf Bauernhöfen. Allerdings hatte sie ausschließlich Höfe gewählt, auf denen sie unter dem Schutz einer Bäuerin stand. Sie hatte im Lauf ihres kurzen Lebens genug über die Männer gehört, um sich nicht in deren Abhängigkeit zu begeben. Wegen eines Mannes war ihre Mutter von ihrem Volk verstoßen worden. Männern jeden Alters musste man daher aus dem Weg gehen.
Bei ihrer Ankunft in Oxford hatte sie eine kleine Geldsumme beisammen und die zweihundert Pfund in einem Lederbeutel unter ihrem Rock versteckt. Ihre Kleider waren nur noch Lumpen und zu kurz und eng. Manchmal hatte eine warmherzige Bäuerin ihr aus Mitleid etwas geschenkt.
Früher hätte Mitleid Rachel beleidigt, jetzt nahm sie die Gaben mit einem kurzen Lächeln an, denn zum ersten Mal erkannte sie die Vorzüge der Freiheit. O ja, die Großmutter fehlte ihr. Aber hier in der Stadt brauchte sie nicht unter der Missbilligung ihres Stammes und der Verachtung der Leute, durch deren Ortschaften sie zogen, zu leiden. Hier war alles anders – auch sie war anders, denn sie trug nicht länger den verhassten Beinamen einer Zigeunerin.
Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie frei war. Sie konnte selbst bestimmen, was aus ihr werden sollte. Auf den Bauernhöfen hatte man angenommen, sie wäre einer der unzähligen Teenager, die sich während des Sommers auf den Feldern Geld verdienen wollten … Zigeuner reisten nicht allein. Und Rachels Haut war blass genug und ihr Haar dunkelrot, sodass sie nicht sofort als Angehörige ihres Volkes erkannt wurde.
Sie war bereit, schwer zu arbeiten, und erwarb deshalb die Achtung der Bäuerinnen, die sie beschäftigten. Die Art der Arbeit war ihr gleichgültig, solange sie dabei nicht zu engen Kontakt mit den männlichen Mitgliedern des Haushalts bekam. Auch das sprach für sie. Mehrmals bat man sie, doch zu bleiben, aber ihr wurde langsam klar, dass das Leben mehr für sie bereithielt als die Schinderei bei niedriger Arbeit.
Auf einem Bauernhof im wohlhabenden Cheshire durfte Rachel in dem Zimmer schlafen, das früher der erwachsenen Tochter des Hauses gehört hatte. Dort stand sogar ein Fernsehapparat. Natürlich besaßen auch zahlreiche Zigeuner einen Fernseher, doch die Großmutter hatte nicht zu ihnen gehört. Rachel verbrachte jede freie Minute vor dieser neuen Informationsquelle, und alles, was sie sah, bestätigte ihr, dass es noch ein anderes Leben gab.
Ihre Großmutter hatte immer gesagt, eine gute Schulbildung öffne viele Türen, und sie glaubte ihr. Aber wie sollte sie diese Ausbildung bekommen? Denn nun hatte Rachel ein Ziel: Sie wollte so werden wie die Frauen im Fernsehen – fantastisch angezogen, gepflegt, strahlend und beliebt.
Bisher waren Kleider für sie nur ein Schutz gegen das Wetter gewesen. Doch jetzt entdeckte sie junge Mädchen mit hübschen Kleidern, und sie träumte davon, ebensolche zu tragen.
Wenn sie
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