Jordan, Penny
einer Lesekarte kam. Deshalb kannte sie die Geschichte vom Christ Church College.
Eben läutete „Great Tom“, die Glocke, zum Zapfenstreich.
„In der allerletzten Minute – wie immer. Komm mit, mein Zimmer ist hier oben.“
Während der Sommerferien hatte Rachel gelernt, passende Antworten auf die scherzhaften Bemerkungen des Wirts zu geben. Aber sowohl Bernadette als auch die Frau ihres Chefs hatten ihr erzählt, dass Oxfordstudenten außerordentlich hartnäckig sein konnten.
„Eigentlich sollte man annehmen, sie wüssten etwas Besseres mit ihrer Zeit anzufangen, als unsereins ins Bett zu locken“, hatte Bernadette verächtlich geschimpft.
Der Umgang mit Bernadette und den anderen jungen Mädchen im Hotel hatte Rachel etwas gewandter gemacht. Inzwischen summte sie bei der Arbeit häufig den neuesten Popsong. Außerdem trug sie Make-up, was ihre Großmutter immer missbilligt hatte, und sie nahm langsam die Sitten und Gebräuche ihrer Altersgenossinnen an.
Zum ersten Mal im Leben hatte sie das Gefühl, als gleichberechtigt anerkannt zu werden, und das gefiel ihr. Allerdings war sie von Natur aus vorsichtig. Wenn die anderen Mädchen abends kichernd verschwanden und erst am nächsten Morgen zurückkehrten, ließ sie sich zwar gern von den Jungen erzählen, mit denen sie ausgegangen waren. Doch wenn sich einer mit ihr verabreden wollte, hielt sie ihn auf Abstand. Sie wollte jetzt keine Freundschaft mit einem jungen Mann und keine Liebesromanze. Dafür hatte sie keine Zeit. Ihr blieb noch so viel zu tun. Die Ankunft in Oxford hatte ihr die Augen dafür geöffnet, was ihr im Leben alles fehlte.
Diese Studenten, die durch die Straßen Oxfords zogen, würden eines Tages in die Welt hinausgehen und angesehene Mitglieder der Gesellschaft werden. Die Erinnerung an ihre bittere Kindheit verfolgte sie immer noch, deshalb war sie entschlossen, sich unverletzlich zu machen. Und der einzige Weg dahin war die finanzielle Sicherheit.
Rachel besaß eine rasche Auffassungsaufgabe und hatte längst erkannt, dass sie sich niemals mit jenen Zielen zufriedengeben würde, die Bernadette und die anderen Mädchen anstrebten. Sie lebten glücklich in den Tag hinein, gaben ihren Lohn für neue Kleidung aus und trafen sich jeden Abend mit einem anderen Mann.
„Glaubst du, dass du mich die Treppe hinaufbringen kannst?“
Rachel runzelte die Stirn und sah den jungen Mann nachdenklich an. Er war nicht der erste Student, der sich für sie interessierte, und die innere Stimme riet ihr, vorsichtig zu sein.
„Ich muss zurück“, sagte sie daher. „Ich müsste schon arbeiten.“
Es klang derart herablassend, dass Rachel verärgert errötete. „Ja“, erklärte sie kurz angebunden. „Im ‚King’s Arms‘.“
„Aha … Ja, ich verstehe.“
Er betrachtete sie jetzt anders, abschätzender. Rachel wusste, was ihm durch den Kopf ging. Wegen ihrer Jeans, ihrer Baumwollbluse und dem schulterlangen Haar hatte er sie für eine Studienkameradin gehalten. Misstrauisch war er allerdings nicht. Dafür flammte ein heftiges sexuelles Interesse in seinen Augen auf.
„Dann bist du keine Studentin.“
Erhobenen Hauptes sah sie ihn an und wehrte seinen begehrlichen Blick kühl ab. „Nein.“
„Wie heißt du? Mein Name ist Tim … Tim Wilding.“
Der plötzliche Wechsel seiner Taktik überraschte sie, und sie antwortete unwillkürlich: „Rachel.“
Mit seinen blauen Augen lachte er sie an. „Der Name gefällt mir nicht … Er ist viel zu biblisch für dich. Ich werde dich Zigeunerin nennen … Das passt besser zu dir.“
Das Herz blieb ihr beinahe stehen vor Schreck, aber er schien es nicht zu merken.
„Bist du tief im Innern eine Zigeunerin? Ich bin einer.“
Über ihnen wurde ein Fenster geöffnet, und Tim trat ein paar Schritte zurück und sah hinauf. Rachel folgte seinem Blick und bemerkte einen Mann, der zu ihnen hinabschaute. Er war etwa so alt wie Tim, ansonsten äußerlich aber ganz anders. Er besaß dichtes, stark gelocktes dunkles Haar, das er etwas kürzer trug, als es der derzeitigen Mode entsprach. Sein Gesicht war glatt und kantig, seine Haut gebräunt und seine Augen von einem leuchtend hellen Grau.
„Miles, ich habe mir den Knöchel verstaucht, und dieses reizende Wesen eilte zu meiner Rettung herbei. Komm bitte herunter und hilf mir.“
Der junge Mann blickte spöttisch drein und schloss das Fenster.
„Miles French ist mein Wohnungsgenosse.“ Tim Wilding verzog das Gesicht. „Für meinen Geschmack ist er
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