Jorina – Die Jade-Hexe
geschändeten Frau, die man als Hexe verfolgt und verbrannt hatte?
Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu schauen. Er brauchte sie nicht mehr. Er war gesund an Leib und Seele. Sie ahnte, dass ihn der Gedanke an Rache und Vergeltung mit jedem Tage mehr beherrschen würde. Er brannte darauf, Paskal Cocherel zur Rechenschaft zu ziehen und den Makel des Verrats von seinem ehrenwerten Namen zu tilgen.
Raoul, um den sich ihre Gedanken drehten, sah, wie ihr Gesicht sich verschloss, abweisend wurde. Als sie den Blick hob und ihn anschaute, las er nichts als Ruhe und Gelassenheit darin – und irgendwie erschreckte ihn dies.
»Ich weiß nichts von Dirnen, Messire!« erwiderte sie. »Ich hab’ Euch nichts verkauft und nichts genommen. Ihr seid mir nichts schuldig und ich Euch auch nicht.«
Dann wandte sie sich um und verschwand in der Blätterwand des Waldes. Für den Ritter sah es aus, als wäre sie vom Grün verschluckt worden. In einer Mischung aus Scham und Zorn starrte er ihr nach. Ihm war bewusst, dass er sich abscheulich benommen hatte, aber gleichzeitig fühlte er sich auch im Recht.
Es ging nicht an, dass er dieser Waldfee gestattete, Macht über ihn zu erlangen. Er fürchtete sich davor – vor der Erkenntnis, dass er nicht ohne sie zu leben vermochte.
Jorina verharrte mitten im Schritt. Sie war blindlings durch den Wald gelaufen, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Nur getrieben von dem Wunsch, soviel Abstand wie möglich zwischen sich und den Ritter zu legen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie von ihm höchste Seligkeit und tiefste Demütigung empfangen. Woher nahm er das Recht, ihr so weht zu tun? Weil sie fahrlässig genug gewesen war, in seinen Armen von Glück zu träumen?
In ihrer Verzweiflung hatte sie nicht darauf geachtet, dass sie eine Richtung einschlug, die sie bisher sorgsam vermieden hatte. Sie lief weiter nach Süden! Dem Meer zu und dem Dorf zu. Penhors! Sie erinnerte sich an die vielfältigen Gerüche ihrer Kindheit, wenn der Wind sogar im Forst nach Algen und Fisch roch, nach Salz und Abenteuer. An die zahllosen Fragen, die sie ihrer Mutter gestellt und die diese zum Lachen und zum Schimpfen gebracht hatten. Das Meer, im Duft so nahe und doch weiter als der Horizont entfernt, hatte das kleine Mädchen fasziniert, das nur Wald und Bäume kannte.
War es wirklich Zufall, oder hatten die Erinnerungen und die Sehnsucht sie in diesen verbotenen Teil des riesigen Waldes geleitet? War es das, was ihr blieb? Das Leben in der Einsamkeit der Wildnis und das Warten darauf, dass sie eines Tages auch zu ihr kamen und sie mitsamt ihrer armseligen Behausung in Brand steckten, weil sie sich weigerte, einem Bauern oder einem Wildhüter zu Gefallen zu sein?
»Vermeide die Fehler deiner Mutter«, hatte die Äbtissin von Sainte Anne bei jeder passenden Gelegenheit gefordert, und Jorina lachte freudlos auf, während ihre Füße ganz von selbst in die Vergangenheit zurückfanden. Ließen die Ereignisse ihr denn eine Wahl?
Die Reste der rußgeschwärzten Feuerstelle und des gedrungenen Kamines, vor undenklichen Zeiten aus groben Felssteinen zusammengefügt, fanden sich von Efeu und Misteln überwuchert am Rande der versteckten Lichtung. Es fehlte nicht mehr viel, und die Natur hätte jede Spur davon ausgelöscht, dass hier einmal Menschen gelebt hatten.
Wie in Trance bahnte sich Jorina einen Weg durch das Gestrüpp. Bis auf das leise Rascheln der hohen Gräser, die ihre Kleider streiften, war kein Laut zu hören. Kein Vogel, kein Tier, nicht einmal ein Windhauch raschelte durch das Laub. War dies die Stille des Dramas, das sich hier vor vielen Jahren ereignet hatte? Jorina verschwendete keinen Gedanken daran.
Ohne darauf zu achten, ob sie sich an den Dornen riss oder die Brennnesseln sie brannten, schob sie die Ranken zur Seite und berührte die rauhen Steine des seltsamen, halb zusammengesunkenen Gebildes, das einmal der Schornstein der Feuerstelle gewesen war. Der graue Granit speicherte die Wärme des Tages und die Erinnerungen ihrer Kindheit. Wie oft hatte sie in diese Flammen gestarrt und sich gewünscht, es wäre das Glühen eines großen Kamines, um den sich eine große, glückliche Familie scharte.
Dumme Träume, wie jener, den sie seit Auray träumte. Es ging nicht an, dass sie ihr Schicksal mit jenem Raouls verband, sie wusste es nur zu genau. Seit den tragischen Tagen nach der Schlacht gab sie sich dummen Illusionen hin, und je länger sie das Ende hinauszögerte, desto mehr würde sie
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