Jorina – Die Jade-Hexe
aber viel Spaß haben!« Maé brach in spöttisches Gelächter aus. »Wenn du das erste Mal seine Peitsche gekostet hast, wirst du schon noch merken, dass er sehr überzeugend sein kann! Mach dich nicht unglücklich, Kleine!«
Jorina antwortete nicht. Sie musste sich nicht unglücklich machen, sie war es bereits. Trotzdem griff sie herzhaft zu, als die Bretter mit dem Fleisch von Neuem herumgereicht wurden, und sie ließ sich den Holzbecher mit allem füllen, was ausgeschenkt wurde. Nicht erst die letzten Tage hatten sie gelehrt, jede Mahlzeit zu genießen. Schließlich wusste man nie, wann man die Nächste bekam.
Paskal Cocherel beobachtete sie nachdenklich, wie sie mit natürlicher Anmut und einer geradezu eisernen Zielstrebigkeit zugriff. Unwillkürlich verglich er sie mit der engelhaften Suzelin de Blois, die jene tödliche Feindschaft zwischen ihm und Raoul de Nadier ausgelöst hatte.
Suzelin de Blois hatte die winzigen Mengen Nahrung, die sie bei Banketten zu sich nahm, von der Spitze eines silbernen Messerchens gepflückt. Wenn sie trank, dann nippte sie höchstens mit spitzem Mund an ihrem Pokal, und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, sie verspüre so etwas Gewöhnliches wie Hunger oder Durst.
Die Kleine dort hatte unzweifelhaft beides. Der Herzog runzelte die Stirn. Hätte er dies besser nutzen sollen? Nun war es ohnehin zu spät, und er gönnte sich das Vergnügen, sich die Dinge auszumalen, die nach dem Mahl auf ihn warteten. Sie war mit Sicherheit noch Jungfrau, oder sollte Nadier sich so weit vergessen haben ... Nun, man würde sehen. Er freute sich schon jetzt auf den Augenblick, in dem er ihn mit dem geschundenen, missbrauchten Körper dieser kleinen Nonne konfrontieren würde.
Jorina sah zufällig das Lächeln, das die gelben Zähne des Herzogs entblößte, und schaute schnell wieder fort. Die Frau, die ihr vorhin beigestanden hatte, sah die Bewegung und schüttelte tadelnd den Kopf. »Lass dir einen guten Rat geben, Mädchen. Zeig ihm nicht, dass du Angst vor ihm hast. Es bringt den Teufel in ihm zum Vorschein, und man muss schon ein so schlichtes Gemüt wie Maé haben, um daran Gefallen zu finden!«
Jorina legte den Apfel zur Seite, den sie sich aus der großen Schale genommen hatte. Er war rot und prall und duftete nach allen Freuden des Herbstes, aber ihr war mit einem Schlag die Lust darauf vergangen. Wie konnte sie hier sitzen und essen, während Raoul de Nadier irgendwo unter ihr in einem Verlies schmachtete? Wenn dieser Mann dort oben über all den Gemeinheiten brütete, die er ihr antun wollte, damit sie ihm verriet, wo der Jadestern sich befand?
Für einen Herzschlag lang zog sie in Erwägung, es einfach zu verraten. Im Austausch gegen Raoul de Nadiers Leben. Aber nein, sie traute dem Herzog nicht einen Fingerbreit über den Weg. Er würde den Stein nehmen und den Ritter weiter in Gefangenschaft behalten.
Dabei hätte es ihr nichts ausgemacht, das Juwel hinzugeben. Was sollte sie schon damit tun? Nun, da sie um seine Bedeutung wusste, konnte sie noch weniger damit anfangen als zuvor. Dies war kein normaler Schatz, den man an den nächstbesten Goldschmied gab oder gar für einen Platz im Kloster eintauschte. Dieses Stück Jade gehörte in das Kreuz von Ys, und Jorina bezweifelte mehr denn je, dass Mutter Elissa das Richtige getan hatte, als sie es zerstörte.
Andererseits glaubte Jorina eines mit Sicherheit zu wissen: Paskal Cocherel war nicht der Mann, der ihrer Heimat den Frieden brachte. Egal ob mit oder ohne Kreuz! Um diesen Mann war nur Gewalt und Tod! Und seine Kumpane, die hier in sorgloser Unbeschwertheit zechten, hatten in Sainte Anne Mutter Elissa und die frommen Frauen gefoltert.
Die Folter wartete auch auf sie. Die Drohung des Herzogs hallte in ihren Ohren nach, und sie fröstelte, obwohl sie das wärmste Kleid trug, das sie jemals besessen hatte. Was würde er ihr antun?
»Du meine Güte, mit dieser Leichenbittermiene kannst du aber keinen Kerl in den nächsten Alkoven locken.« Maé machte sich von Neuem über sie lustig. Sie beugte sich so nahe zu Jorina, dass deren Hand mitsamt dem Apfel von einem schweren weichen Busen auf die Tischplatte gedrückt wurde. »Was ist los mit dir? Hast du noch nie einen Kerl gehabt? Bist du noch Jungfrau?«
Jorina schüttelte in einem Anflug von Trotz den Kopf. Was sie dazu trieb, ausgerechnet dieser aufdringlichen Magd zu gestehen, was außer ihr und Raoul keine Menschenseele wusste, vermochte sie selbst nicht zu sagen.
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