Jorina – Die Jade-Hexe
Ihr nicht lassen könnt, wenn Ihr Euren Wünschen nachgeben wollt. Solange ich Euer Gefangener bin, habe ich keinen Einfluss darauf.«
Er schaffte es immerhin, den Herzog zu verunsichern. Die Peitsche kam zur Ruhe, und die buschigen grauen Brauen bildeten einen bedrohlichen Strich über den stechend hellen Raubvogelaugen. Beide errieten sie die Gedanken des anderen, aber keiner fand in diesem Moment eine schwache Stelle beim Gegner.
Dennoch wusste Raoul auch, dass er keine Chance hatte. Was sollte er tun, wenn Cocherel ihm nicht glaubte, dass ihm Jorina angeblich völlig einerlei war? Sogar wenn er bereit gewesen wäre, alles für sie zu verraten – er hatte keine Ahnung, mit welcher Information er ihr Leben erkaufen konnte!
»Wir werden sehen«, meinte der Herzog unheildrohend und riss die Fackel aus der Halterung. Er hielt sie so nahe an das Gesicht seines Gefangenen, dass er ihm ein paar Barthaare versengte. »Aber ehe ich dem hübschen Ding die Haut zerschneide, werde ich mich erst ein wenig mit ihm vergnügen. Wer weiß, vielleicht mache ich sogar meinen Männern eine Freude ...«
Er quittierte den unbeherrschten Aufschrei des Gefangenen mit einem heiseren Lachen und schlug die Tür hinter sich zu. Dunkelheit senkte sich wieder über den Mann, der keuchend an seinen Fesseln zerrte und seine Kräfte in einem sinnlosen Aufbäumen verschwendete. Die Vorstellung, dass Cocherel seine Pranken auf Jorinas weißen Leib legte, brachte ihn um den Verstand!
Der Himmel durfte nicht zulassen, dass sie von diesem Schurken beschmutzt wurde. Wenn es eine göttliche Gerechtigkeit auf dieser Welt gab, dann musste sie ihre schützende Hand über Jorina halten. Welches Geheimnis sie auch immer verbarg, es war den grauenvollen Preis nicht wert, den Paskal Cocherel dafür fordern würde!
15. Kapitel
»Er sagt, du sollst in die Halle kommen, wenn du essen möchtest.«
Jorina fuhr vom Bett hoch und starrte die bedrohlich aufragende dunkle Gestalt an, die sie an der Schulter gerüttelt und geweckt hatte. Es war jener schwarzbärtige Mann, der so etwas wie ihr Wächter zu sein schien, und sein Anblick hatte im Zwielicht der einzelnen Stundenkerze, die auf dem Tisch brannte, etwas von einem lebendig gewordenen Kinderschreck. Trotzdem brachte Jorina ein zitterndes Lächeln des Dankes zustande.
Seltsamerweise wusste sie, dass er es aus eigenem Antrieb auf sich genommen hatte, sie zu wecken, dass sich sonst niemand um ihren Hunger oder ihren Durst gekümmert hätte.
Sie stand auf und versuchte das Kleid zu glätten, dem man bedauerlicherweise ansah, dass sie darin geschlafen hatte. Sie hatte jedoch nicht einmal gewagt, das Übergewand abzulegen. Sie war wie gelähmt, wie zerschmettert über dem Bett liegen geblieben, bis der Schlummer sie irgendwann überwältigt hatte. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie geschlafen hatte. Die Läden der Kammer ließen kein Tageslicht herein, und der Gang hinter der halb offenen Tür lag im Dunkel.
»Es ist freundlich von Euch, mich zu holen«, murmelte sie leise.
»Mach nie den Fehler, in dieser Burg von irgendeinem Menschen Freundlichkeit zu erwarten«, sagte er mit so kalter, ungerührter Stimme, dass Jorina erschrocken zusammenzuckte. »Ein jeder gehorcht dem Herrn, und das solltest du auch tun, wenn du keinen Ärger bekommen möchtest! Und jetzt säume nicht länger!«
Jorina legte eine erste Probe ihres Gehorsams ab, indem sie schweigend vor ihm aus dem Zimmer huschte. Ihre offenen Haare wehten hinter ihr her, und es juckte sie in den Fingern, sie zum gewohnten Zopf zu bändigen. Sie warf einen Blick auf die mürrische Miene ihres Begleiters und unterließ es. Hätte er etwas an ihr auszusetzen gehabt, hätte er es vermutlich gesagt.
Er führte sie in die große Halle mit den beiden riesigen Kaminen, und ihr Fuß stockte an der Treppe, als sie die vielen Menschen im Saal entdeckte. Niemals in ihrem Leben hatte sie ein solches Durcheinander aus Männern, Hunden, Mägden und Knechten gesehen. Ein Stoß zwischen ihre Schulterblätter trieb sie weiter auf die Schragentische zu, die sich unter Schüsseln und Kesseln fast bogen.
Das Mahl, dessen Düfte Jorina das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, versammelte alle Bewohner der Burg, die zu dieser Abendstunde nicht auf Zinnen und Toren Wachdienst hatten. Fassungslos glitten Jorinas Blicke über riesige Bretter mit Bratenstücken, wohlgefüllte Terrinen und Brote so groß wie Mühlräder. Dass es den Gerichten an Raffinesse fehlte und
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