Jorina – Die Jade-Hexe
bekümmerten Seufzer nicht zu unterdrücken.
»Kopf hoch, Kleine!« versuchte der Hauptmann sie aufzumuntern, der mit strammem Schritt an ihrer Seite marschierte. »Seine Gnaden, der Herzog ist ein gerechter Herr. Wenn du keine Schuld auf dich geladen hast, wird dir nichts geschehen!«
Hatte sie sich schuldig gemacht, weil sie die Wahrheit sagte? Welche Schuld? Jorina schwieg, aber in ihrem Kopf drehte und wendete sie das Wort nach allen Seiten. Seit jenem schrecklichen Abend in Auray tat sie immer nur das, was die Umstände und die anderen Menschen ihr aufzwangen. Wie hätte sie die Ereignisse vermeiden, welchen anderen Weg einschlagen können? Sie hatten ihr nie eine Wahl gelassen!
Was auch immer mit ›Schuld‹ gemeint sein sollte, sie fand nicht Schuldhaftes an ihren Taten. Sie hatte gehorcht, geholfen und geliebt; wer sie dafür verurteilte, erklärte auch die Zehn Gebote für falsch!
Die Erkenntnis dieser Tatsache vertrieb mit einem Schlag die Lähmung, die sie bisher umfangen hielt. Sie hob das kleine eigensinnige Kinn, zog den Umhang, den ihr Dame Rose im letzten Moment übergeworfen hatte, ein wenig enger um die Gestalt und nahm ihre Umgebung endlich zur Kenntnis. Sie schritten bereits über die große Brücke, die zum Haupttor der Burg führte.
Die schweren rechteckigen Granitbrocken, die sich zu mächtigen Befestigungswerken auftürmten, waren die gleichen wie in St. Cado, aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Das Leben der Stadt pulsierte bis in die Burg hinein, und die bunten, prächtigen Standarten, die über dem Haupttor wehten, milderten das grimmige Grau des Steines. Bewaffnete Männer in den Farben des neuen Herzogs bewachten den Eingang. Auf den Wällen und Wehrgängen schimmerten Helme und Waffen, und in den Höfen herrschte ein fröhliches Kommen und Gehen prächtig gekleideter Menschen.
Jorina drehte neugierig den Kopf in alle Richtungen und bemerkte, dass auch ihr viele interessierte Blicke folgten. Ein Bürgermädchen, als das ihre Kleider sie auswiesen, wurde schließlich nicht alle Tage unter strengster Bewachung zum Herzog gebracht. Aber sie dachte nicht daran, ängstlich die Augen niederzuschlagen. So kam es, dass Seine Gnaden, Jean de Montfort, wenig später in die kühl blitzenden, türkisfarbenen Augen einer schlanken Jungfer sah, die ihm zwar ihren Respekt erwies, aber beileibe nicht eingeschüchtert oder verschreckt wirkte.
»Ist das die Demoiselle?« wandte er sich an jemanden, der im Hintergrund seines prächtig ausgestatteten Arbeitskabinetts stand, und Jorina entdeckte neben dem Fenster die mollige Gestalt der Dame de Tréboule, die ihr mit einem stummen Gruß zunickte.
»Sie ist es, mon Seigneur«, bestätigte sie verhalten.
»Gut. Laßt uns allein, Hauptmann, und meldet Euch bei der Palastwache zurück«, befahl der Herzog.
Jorinas Blick wanderte von der Dame de Tréboule, die seltsam angespannt wirkte, zum Herzog zurück. Der einzige Herzog, den sie jemals zu Gesicht bekommen hatte, war Paskal Cocherel gewesen, der sich diese Ehre zusammen mit der Festung gewaltsam angeeignet hatte.
Jener hier herrschte aufgrund seiner edlen Geburt und seiner Siege. Auch wenn er jünger und angenehmer als der rauhe Söldnerführer wirkte, so beging sie keineswegs den Fehler, ihn zu unterschätzen. In seiner Hand lag das Leben von Raoul de Nadier!
Unter der prächtigen, pelzgefütterten Tunika und der schweren Goldkette mit der Wappenmünze schlug ebenso wie bei Paskal Cocherel das Herz eines kühl abwägenden Mannes, der notfalls die Macht über menschliche Gefühle stellte.
Jean de Montfort spürte die wachsame Aufmerksamkeit seiner jungen Besucherin, das gesunde Misstrauen, das sie ihm entgegenbrachte.
»Beruhigt Euch, ich bin nicht Euer Feind!« rutschte es ihm gegen seinen Willen heraus. »Entspricht es der Wahrheit, dass Ihr zu den Novizinnen im Kloster von Sainte Anne d’Auray gehört habt?«
»Ja«, entgegnete Jorina leise.
»Dann könnt Ihr mir möglicherweise einen großen Dienst erweisen ...«
Jorina erwiderte nichts, als der Herzog dieses Angebot ein wenig fragend in der Luft hängen ließ. Einen Dienst in Bezug auf Raoul de Nadier? Warum sprach er es nicht aus? Warum belauerte er sie auf diese eigenartige Weise? Es kam ihr vor, als warte der mächtige Herr auf etwas, das sie sagen sollte. Aber was?
»Erzählt Seiner Gnaden genau, was Ihr erlebt habt, ehe Ihr bei Dame Rose ein neues Zuhause gefunden habt, Kind!« riet die Dame de Tréboule. Sie bedauerte,
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