Josef und Li: Roman (German Edition)
direkt vor der Nase die Drahttür zu.
Und dann fing ein wirklicher Kampf an. Helena Bajerová war viel stärker, als sie aussah. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn sich einer der Jungs auf ihn gestürzt hätte. Josef hatte sich noch nie vorher mit einem Mädchen geprügelt, also vielleicht doch, nämlich mit Vendula, aber das zählte nicht.
Also wich er Helenas Fäusten, so gut er konnte, aus und versuchte, aus der Innentasche seiner Jacke das Geheime Heft herauszufischen. Er dachte, die Tigerkrallen wären sauer auf ihn, weil er es ohne Erlaubnis aus dem Geheimversteck ausgeliehen hatte.
»Warte, ich geb’s dir gleich! Ich wollte es dir schon gestern geben, aber wir waren erst spät wieder zu Hause!«
»Du meinst, ich will es noch haben!?!? Auch wenn es mit Perlen besetzt wäre, wollte ich es nicht!«, schrie Helena und schlug weiter auf Josef ein. Josef verstand nicht, warum das Geheime Heft mit Perlen besetzt sein sollte, und rückte es lieber doch nicht raus.
»So ein Schmuckstück, da kann ich an einem Finger zehn davon haben!«, plärrte Helena und bremste ihre Faust direkt vor Josefs Nase. An ihren Fingern glitzerten drei billige Ringe. Máchal, Hnízdil und Šíša blähten sich auf wie Fasane, sodass klar war, von wem Helena den Schmuck hatte. Josef lächelte erleichtert. So war das also! Helena sprach vom Ring und er hatte das Geheime Heft in seiner Tasche.
»Was gibt’s da zu lachen?!« Helena wurde noch wütender und streckte Josef nieder. Sie drückte ihn mit Knien und Händen auf den Boden.
»Josef, Fressen poliert, Blödmänner! Wichs-Wichtel!« Li rüttelte am Gitter und versuchte, Josef aufzubauen.
»Du bist schwach, Joseferl, ganz schrecklich schwach! Du musst mehr essen, dich stärken!« Helena sprach jedes Wort überdeutlich aus, damit Li alles verstehen konnte. »Hat er dir auch ein Schmuckstück geschenkt? Hat er dir auch das Blaue vom Himmel versprochen? Nimm dich vor ihm in Acht, Li! Er ist ein Lügner und ein Verräter! Ich könnte dir Sachen erzählen! «
Li zählte im Geist bis einundzwanzig. Immer wenn sie es schaffte, im Geist bis einundzwanzig zu zählen ohne in Tränen auszubrechen, hatte sie gewonnen. Die Tränen flossen auf einem unsichtbaren Weg im Hals hinunter statt am Gesicht herab und kein Mensch bemerkte etwas.
Dann ließ Helena Josef los und lief mit den Jungs in die Klasse. »Du sein sehr Gentleman, aber jetzt Fressen poliert«, sagte Li zu Josef, als sie ihm mit ihrem Taschentuch die Kratzer und Schürfwunden saubermachte. Er hinkte ein wenig, hatte eine blutige Nase und das alles war ihm schrecklich peinlich.
Die Frau Lehrerin machte beim Anblick des zugerichteten Josef vor Schreck einen Klecks ins Klassenbuch und zeterte aufgeregt: »Oh mein Gott, Klitschko, ich meine natürlich Klička, was ist denn mit dir passiert?«
Josef winkte nur ab, es wäre nichts, und verzog sich auf seinen Platz.
»Bist du taub?« Die Frau Lehrerin ließ nicht locker. »Ich möchte wissen, was passiert ist! Wer hat dich verprügelt?«
Doch Josef schwieg und Máchal, Hnízdil, Šíša und Helena lächelten ihn böse an. Sie wussten sehr genau, dass er sich lieber die Zunge herausreißen lassen würde, als sie zu verpfeifen.
»Na komm, sag schon, wer dich verprügelt hat«, drängte die Frau Lehrerin weiter und Josef sagte nach einer Weile endlich: »Niemand, ich bin nur gestolpert … über so eine …« Josef streifte mit tiefster Verachtung in seinen Augen die Jungs, dann blieb sein Blick an Helena Bajerová haften: »… zerfledderte Fußmatte.«
Die Frau Lehrerin war nicht dumm und wusste ganz genau, dass Josef über keine Fußmatte gestolpert war, doch sie quälte ihn nicht länger mit Fragen. Josef sah wirklich erbärmlich aus und sie selbst hatte nicht viel fürs Verpetzen übrig.
»Weißt du was?«, sagte sie schließlich. »Du gehst jetzt nach Hause, ruhst dich schön aus und morgen bist du wieder fit wie ein Turnschuh.«
Josef musste sich sehr überwinden, um den Tigerkrallen nicht die Zunge rauszustrecken und vor Freude an die Decke zu hüpfen.
»Und Li Nguyen wird dich begleiten. Damit du nicht wieder irgendwo stolperst!«, sagte die Frau Lehrerin und schaute zu Li. »Hast du verstanden, Li? Du begleitest Josef, ja?«
»Verstanden … begleitest«, erwiderte Li und im nächsten Augenblick waren die beiden schon draußen vor der Schule.
Das hier war etwas anderes als Schule schwänzen. Nein, es war viel besser: Es war ein von der Frau Lehrerin erlaubtes
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