Josef und Li: Roman (German Edition)
Schwänzen.
Es wäre eine Sünde gewesen, so eine Gelegenheit ungenutzt zu lassen. Ein Vormittag unter der Woche ist nämlich etwas völlig anderes als ein Vormittag am Wochenende. An einem Vormittag unter der Woche sehen die Häuser, die Straßen, die Parks, die Plätze, die Geschäfte, die Straßenbahnen, die Autos und sogar die Kinder in den Kinderwägen wie auch Hunde und Katzen ganz anders aus. Und alles riecht und klingt anders.
Josef und Li dachten nicht lange nach und anstatt gleich nach Hause zu gehen, setzten sie sich in die erstbeste Straßenbahn, die in der Nähe der Schule hielt.
Sie stellten sich auf die hinterste Plattform im hinteren Wagen, sahen aus dem Fenster und hatten vier Stunden völliger Freiheit vor sich, in denen niemand ihnen irgendwelche Vorschriften machen konnte.
Die Straßenbahn fuhr von Břevnov hinunter zum Hradschin, vorbei an der Prager Burg und dem Belvedere und fuhr weiter hinab an den Chotkovy-Gärten vorbei nach Klárov. Sie fuhr durch die Kleinseite und dann über die Brücke der Legionen auf die andere Seite der Moldau, zum Nationaltheater.
Die beiden stiegen erst nach einer knappen Stunde Fahrt aus und fanden sich in einem Viertel wieder, in dem die Straßen und Häuser ganz anders aussahen als bei ihnen in Břevnov. Sie waren etwas größer und kolossaler, irgendwie wohlgenährter und dekorativer, und wenn dort keine tschechischen Aufschriften gewesen wären und die Leute nicht tschechisch gesprochen hätten, so wäre es Josef vorgekommen, er wäre in einem anderen Land. Möglicherweise dachte Li das Gleiche – und ob sie das dachte! –, doch daran war nun wirklich nichts Ungewöhnliches.
Und dann erblickte Josef neben dem Bordstein etwas Rundes und Glänzendes. Es war eine bronzene Fünfzigkronenmünze! Und so besaßen sie auf einmal achtundfünfzig Kronen, fünfzig Heller und zwei Dong, weil Josef noch acht Kronen und ein Fünfzigerl in der Tasche hatte und Li zwei Dong. Und so mussten sie nicht länger all die Leckereien in den Auslagen der Feinkostgeschäfte, der Bäckereien und der Metzgereien von Vinohrady anschmachten, sodass ihnen das Wasser im Mund zusammenlief, sondern jetzt konnte Josef Li in die Konditorei einladen.
Sie bestellten Limonade und Schaumrollen mit Schlagsahne und setzten sich an das einzige Tischchen im Laden. Es war ein gemütlicher Raum, dank der bereits eingeschalteten Heizstrahler und des gedämpften Lichtes, das durch zwei längliche Fenster in den Raum drang. Li hatte noch nie so etwas Leckeres wie Schlagsahne gegessen und so bestellte sie noch einen Windbeutel und Josef zog das Geheime Heft der Tigerkrallen heraus.
»NEGIRDEINREFESOJDANGYMITNGYESNGYLINGY-SIEHTNGY«, las Josef vielleicht schon zum fünften Mal, und er kam immer noch nicht dahinter.
»Wahrscheinlich ist das ein ausgemachter Blödsinn«, sagte er schließlich und legte das Heft beiseite. Li aber dachte angestrengt nach und wiederholte immer wieder, wie eine Beschwörungsformel: »Negirdeinrefesoj, … Negirdeinrefesoj, … Fesoj …« Und plötzlich kam ihr ein Geistesblitz: »Fesoj … Josef!!!«
Josef kam es jetzt auch, dass ein Teil des Textes ganz einfach rückwärts geschrieben war, und er las: »Josef erniedrigen …«.
Und gleich darauf wusste auch Li, wie sie das Rätsel knacken konnte. Es war ganz einfach! Es genügte, die sich wiederholenden Nachsilben »ngy« mit dem Finger zuzudecken, damit folgender Satz entstand: Da-mit-es-Li-sieht! Josef war es peinlich, dass er nicht selbst darauf gekommen war.
»Josef erniedrigen, damit es Li sieht«, las Li vor und Josef brummte in sich hinein:
»Na, das ist ihnen ja jetzt gelungen.«
»Ich nicht verstehe die Wort, Josef. Was bedeute Josef ernie-dri-gen? «, fragte Li, aber Josef winkte nur ab, schnappte sich das Geheime Heft und rannte aus der Konditorei hinaus.
Die Straßenbahn brachte Josef und Li von Vinohrady zurück nach Břevnov. Die paar Stunden unerwarteter Freiheit waren wie im Flug vergangen. Als sie durch das kaum wahrnehmbare Tor in den verlassenen Garten liefen, schlug die Turmuhr gerade eins.
Sie hatten nur wenige Minuten, um das Geheime Heft an seinen Platz zurückzulegen. Li war das erste Mal im verlassenen Garten, doch sie hatte nicht gerade viel Zeit, sich umzusehen. Kaum hatte Josef das Heft zurück in das Kistchen gelegt, war viermal ein dumpfes Aufschlagen auf der Südseite des Gartens zu hören.
»Tigekralle«, zischte Li Josef zu und pfeilschnell versteckten sich die beiden im dichten
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