Josef und Li: Roman (German Edition)
geworden sein, und hoffte, dass sie ihn nicht nötigen würde, mit dem Ungetüm auf seinem Kopf hinauszugehen. Aber als sich die Frau Lehrerin sattgesehen hatte, durfte er die Mütze letzten Endes dann doch abnehmen.
»Hoffentlich passt sie«, sagte sie eher zu sich und Josef war erleichtert. »Sie scheint groß für ihr Alter zu sein«, fuhr die Frau Lehrerin fort und klopfte auf das Foto unter der Glasplatte auf ihrem Schreibpult. Darauf sah man ein lächelndes Mädchen am Palmenstrand und am Rand stand in Schönschrift geschrieben: Für meine Oma, Mary.
»Ich werde es per Express schicken«, sagte die Frau Lehrerin und machte sich daran, die Mütze wieder sorgfältig in Seidenpapier zu wickeln. Und Josef entwich unauffällig in Richtung Ausgang.
»Dieses Jahr hätten sie kommen sollen, dann hat es doch nicht geklappt«, seufzte die Frau Lehrerin und winkte mutlos mit dem Arm. »Hoffentlich kommt es pünktlich an.«
»Sicher«, hörte man Josef an der Tür. Und damit die Frau Lehrerin doch noch eine Freude hatte, log er tapfer: »Eine schöne Mütze! Sie wird sie mögen.«
Die Frau Lehrerin lächelte Josef dankbar an. Und dann erinnerte
sie sich an die Nachricht, die ihr Li Nguyen hinterlassen hatte, sie müsse mit Josef die Familie Klička retten gehen, und fragte: »Und bei euch zu Hause? Alles wieder in Ordnung?«
Josef nickte etwas unsicher und war verwirrt, doch die Frau Lehrerin lächelte und sagte: »Das ist gut. Du weißt ja, immer ist etwas los.« Und dann entließ sie ihn endlich.
»Das ist ja die Höhe! Was hast du denn dort so lange verloren gehabt?«, fuhr Helena, die hinter einer Säule hervorkam, Josef an und tat so, als wäre sie mit ihm verabredet.
Die anderen Tigerkrallen waren auch da. Und alle lächelten ihn freundlich an. Als ob die Jungs und Helena seine besten Freunde wären.
Aber Josef traute ihnen nicht über den Weg. Er rechnete damit, dass dies wieder einer dieser fiesen Tricks war und wartete nur darauf, dass sie sich auf ihn stürzen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Helena zog ihre Hand hervor, aber nicht, um ihn zu hauen. Sie nahm ihm nur einen rosafarbenen Wollfaden aus dem Haar und wünschte ihm schöne Weihnachten. Und gleichzeitig steckte ihm Šíša etwas in die Tasche, ohne dass es Josef bemerkte. Aber es war weder ein Knallfrosch noch ein stinkiges Ei. Und so lief Josef unbeschadet die Treppe hinunter ins Vestibül, wo Li schon ungeduldig auf und ab ging.
An diesem Tag hatten sie viele Dinge zu erledigen. Man muss das Eisen nämlich schmieden, so lange es heiß ist. Und das Eisen waren jetzt Tuong und Marta. In der Lustigen Teh Cann sollte am Samstag ein Abend der vietnamesischen Poesie stattfinden, und Li wollte die beiden einladen.
Sie schrieb zu Hause in schöner Schrift eine Einladung an Tuong und wollte sie ihm mit Josef so schnell wie möglich bringen. Aber Frau Nguyen versperrte ihnen den Weg und wollte, dass Josef ihr versprach, Li noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu bringen. Josef gab sein Versprechen, aber wohl ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass das Dezemberlicht nur von kurzer Dauer war, fast so kurz wie ein Streich mit dem Zündholz. Und die Zeit verging genauso schnell wie im Sommer, und vor Weihnachten vielleicht auch noch etwas schneller. Aber Josef hätte ihr in dem Augenblick auch weniger erfüllbare Versprechen gegeben.
Als sie zu der Schranke am Markt kamen, standen bereits am Haupteingang mehrere Polizeiautos.
Die Nachricht von einer Polizeikontrolle auf dem Markt verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Von Stand zu Stand klingelten die Mobiltelefone wie Tamtams und die Händler packten eilig ihre Sachen zusammen. Binnen kurzer Zeit war der Markt von Kontrolleuren überschwemmt. Und nichts und niemand entkam ihnen. Auch nicht Li Nguyen.
»Wohin denn, mein liebes Fräulein?!«, sagte eine der gründlichsten Kontrolleurinnen, fasste Li am Ärmel und wollte ihr die Einladung für Tuong entreißen. Sie trug einen braunen Filzhut und durchbohrte Li misstrauisch mit ihrem Blick, als ob Li weiß Gott was für ein schreckliches Verbrechen begangen hätte. Und Li kam sich sogleich wie eine Verbrecherin vor. Krampfhaft umklammerte sie mit ihrer Hand die Einladung und versuchte, ihr Blut wenigstens ein bisschen in Gang
zu bringen, denn die Hand war völlig versteift. Aber dann geschah etwas, womit Li überhaupt nicht gerechnet hätte.
Josef befreite sie! Er war ganz unbemerkt von hinten an die Kontrolleurin herangeschlichen, sprang
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