Josefibichl
»Ist dieser Trenchcoat eigentlich Ihr Ernst?«
»Unglaublich.«
Albert Frey hatte lange gelesen, ausgedruckt, Papierverteilbefehle an Hartinger erteilt, gelesen, ausgedruckt, Befehle erteilt, sich gestreckt, gelesen, ausgedruckt. . .
Seit einer halben Stunde hatte er nur noch gelesen und sehr oft ausgedruckt. Hartinger hatte längst aufgehört zu fragen, auf welchen Haufen die Blätter gehörten – er hatte einfach einen neuen Stapel errichtet, nachdem von Frey keine weiteren Ansagen mehr kamen. Immer nur »Unglaublich«, »Gibt‘s nicht«, »Wahnsinn!« murmelte er vor sich hin.
Seit der letzten Pause waren Stunden vergangen, es musste wohl irgendwo zwischen drei und vier Uhr sein. Die zweite Runde Karg-Hefeweißbier, die Kathi gegen eins hochgebracht hatte, war längst getrunken. Hartinger konnte ein regelmäßiges Gähnen nicht unterdrücken. Er wäre am liebsten in das alte Bett gefallen, um vierundzwanzig Stunden durchzuschlafen. Doch diesen Luxus durfte er sich jetzt nicht gönnen.
Albert Frey zeigte keine Spur von Müdigkeit. Je mehr er las, desto mehr versank er in den Laptop. Er machte auf Hartinger den Eindruck, als würde er durch den Bildschirm direkt in die Vergangenheit blicken.
»Unglaublich«, entfuhr es ihm erneut. Endlich wandte er sich Hartinger zu. »Ich glaube, da haben wir jetzt ein Problem.«
»Die sind im Dutzend billiger. Nur her damit.«
»Nein, Karl-Heinz, nicht nur du und ich. Die Leute in diesem Ort«, sagte Frey bedeutungsschwanger.
»Was haben Sie denn gefunden?«
»Die › Schachtel 39/Akt 43 des Marktarchivs Garmisch-Partenkirchen: Verzeichnis der Gebrechlichen, Blinden, Taubstummen und Blöden ‹ .«
»Die was?«
» › Schachtel 39/Akt 43: Verzeichnis der Gebrechlichen, Blinden, Taubstummen und Blöden ‹ «, wiederholte Albert Frey geduldig.
Hartinger konnte ein sarkastisches Lachen nicht unterdrücken. »Und da stehen alle Garmisch-Partenkirchner Einwohner drin, wie ich vermute.«
»Kein Grund zur Ausgelassenheit, Karl-Heinz Hartinger. Wenn ich es richtig interpretiere, enthält diese Schachtel Zeugnisse einer Riesensauerei.« Frey machte in der Tat überhaupt keinen spaßigen Eindruck.
»War doch zu erwarten, dass auch in diesem Ort Sauereien passiert sind. Wie in so vielen Orten während des zwanzigsten Jahrhunderts.« Hartinger war hundemüde und abgespannt und konnte sich zudem nicht vorstellen, dass die Garmischer und Partenkirchner schlimmere Nazis, Mitläufer und Kriegsgewinnler gewesen sein sollten als die Dinkelsbühler oder die Gütersloher.
»Da hast du recht. Hast ja auch gut in der Schule aufgepasst. Aber diese Schachtel aus dem Marktarchiv belegt eine ganz spezielle Sauerei, die Auswirkungen bis heute hat. Oder zumindest haben kann«, fasste Frey seine Erkenntnisse zusammen.
»Machen Sie es doch bitte nicht so spannend«, mahnte Hartinger seinen alten Lehrer.
»Gemach, gemach, ich muss es erst noch mal auseinandersortieren und sauber zusammensetzen, sonst ziehen wir die falschen Schlüsse. Mal der Reihe nach: Was wir wussten, ist, dass dieser Ort unter Druck der Nazis zwangsvereinigt wurde. Am 1. Januar 1935 trat die Vereinigung in Kraft. Das Internationale Olympische Komitee machte das zur Bedingung dafür, dass hier 1936 Olympische Winterspiele abgehalten wurden.«
»Ja, ja, das wissen wir alle«, tat Hartinger gelangweilt. »Und dass die Nazis die Olympischen Spiele wollten, um der Welt ihre angebliche Friedfertigkeit zu beweisen. Haben wir sogar in der Schule gelernt.«
»Aber nicht von mir«, warf Albert Frey ein, »denn das stimmt nämlich nicht. Die Vergabe der Sommerspiele 1936 an Berlin erfolgte bereits 1931, also zwei Jahre bevor die Nazis an die Macht kamen. Damit waren damals auch automatisch die Winterspiele im selben Land. Man musste sich also nur in Deutschland einig werden, welcher Ort dafür infrage kam. Die Nazis, die ja 31 schon durchaus stark waren, waren über die Olympischen Spiele in Deutschland überhaupt nicht begeistert. Die wollten ja alles Nichtdeutsche draußen haben und eben nicht die Welt einladen.«
»Richtig. Sie wollten ja die Welt lieber besuchen und hatten zu diesem Zweck das Reisebüro Wehrmacht heimlich mit allerhand gut gepanzerten Ferienmobilen, Schiffen und Fliegern aufgerüstet«, warf Hartinger ein.
»Ein bisschen ernsthafter, Karl-Heinz, wenn ich bitten darf!« Albert Frey wunderte sich, dass dieser Riese Hartinger immer noch der Kindskopf war, den er aus der elften Klasse kannte. Intelligent und
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