Josefibichl
messerscharfer Verstand, aber Kindskopf. »Also sie wollten Olympia nicht, die Nazis. Bis der Propagandaexperte Hitler erkannte, dass Olympia durchaus positiv genutzt werden konnte, und anordnete, dass das die größten Spiele werden sollten, die die Welt jemals gesehen hätte. Was dann letztlich auch gelang. Die Spiele in Garmisch-Partenkichen und Berlin damals waren wirklich beeindruckend. Das IOC hat am Schluss die Olympischen Spiele 1940 wieder an Deutschland vergeben, so begeistert waren die!«
»Und was haben unsere Gebrechlichen und Blöden damit zu tun?«
»Ja, genau. Ich komme zurück zur Zwangsvereinigung der beiden Orte Garmisch und Partenkirchen. Die wollten partout nicht Zusammengehen. Vor allem die Partenkirchner wollten nicht, da sie Angst hatten, dass sie in der neuen Doppelgemeinde an den Rand gedrängt werden könnten. Denn am Rand des Tals befanden sie sich ja eh schon. Bahnhof, große Hotels und Ortszentrum waren eher in Garmisch geplant. Man musste den Partenkirchnern daher den Standort des Rathauses zugestehen, sonst hätten sie nicht zugestimmt. Beziehungsweise hätten sie natürlich letztendlich schon, denn schon 1934 konnte man mit dem Spruch › Halt‘s Maul, sonst kommst nach Dachau ‹ durchaus Menschen bewegen. Und jetzt kommt die › Schachtel 39/Akt 43: Verzeichnis der Gebrechlichen, Blinden, Taubstummen und Blöden ‹ ins Spiel. Ich vermute, dass hier Zeugnisse darüber liegen, dass einige Leute mittels Gutachten über ihren Geisteszustand aus dem Weg geschafft wurden.«
»Hat man die nicht einfach so weggesteckt?«
»Anfangs noch nicht. Man braucht auch als Terrorregime eine Rechtsgrundlage, um Unrecht als Recht darstellen zu können, das kennen wir doch aus allen Diktaturen. Sonst rebellieren die Leute. Das wäre 33/34 schon noch drin gewesen. Später vielleicht weniger. Also hat man versucht, allem einen rechtsstaatlichen Anstrich zu geben.«
»Und hat einige Menschen zu Deppen erklärt, die man dann ins Irrenhaus gesteckt hat?«, fragte Hartinger.
»Wenn‘s nur das Irrenhaus gewesen wäre. Es ging hier ja darum, die Rassengesetze von 33 umzusetzen. Und da war von › Reinigung des Volkskörpers und Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen ‹ die Rede. Und › erbkrank ‹ , das waren die Menschen mit › angeborenem Schwachsinn ‹ , mit Schizophrenie, Manisch-Depressive, Blinde, Taube, Fehlgebildete. Und nicht zu vergessen Alkoholabhängige.«
»Stimmt, Herr Hitler war ja Abstinenzler und Vegetarier.« Hartinger traute sich einen weiteren historischen Kommentar zu und wurde diesmal nicht zurechtgewiesen.
»Und die hat man nicht nur ins Irrenhaus gesteckt, sondern zwangssterilisiert und teilweise auch umgebracht. Zuerst wurden den betreffenden Personen natürlich sämtliche Rechte aberkannt. Ihr Besitz wurde eingezogen. Und großzügig unter den Hitleranhängern verteilt.«
»So wie der Besitz der jüdischen Bevölkerung › arisiert ‹ wurde«, ergänzte Hartinger.
»Richtig. Nur, dass es in diesen Fällen viel früher losging. Im Juli 33, also kaum ein halbes Jahr nach der Machtergreifung, wurde das › Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ‹ verabschiedet. Damit hatte es Hitler ganz besonders eilig. Und in Garmisch-Partenkirchen wurde das natürlich sofort umgesetzt. Bereits im August 1933 wurde das Verzeichnis der Gebrechlichen, Blinden, Taubstummen und Blöden ‹ angelegt. Bald darauf wurden gegen die ersten Mitbürger, die nach diesem Gesetz der › rassehygienischen Sonderbehandlung ‹ zugeführt werden sollten, die Verfahren eröffnet. So, und jetzt vergleichen wir einmal die Namen der in den Jahren 33 und 34 in Garmisch-Partenkirchen auf das »Verzeichnis der Gebrechlichen, Blinden, Taubstummen und Blöden ‹ gesetzten Menschen mit den Namen der Familien, die im Zuge der Zwangsvereinigung der beiden Ortsteile – du erinnerst dich, zum 1. Januar 35 – ihren Grund und Boden verloren haben. Da gibt es einen Namen, der auf beiden Listen auftaucht.«
Albert Frey hielt Hartinger zwei Ausdrucke unter die Nase. Den betreffenden Namen hatte er unterstrichen.
Hartinger nahm die beiden Listen. Der Name sagte ihm nichts. Keiner der im Ort geläufigen Einheimischennamen, sondern ein Allerweltsname, der nicht einmal den oberbayerischen Hintergrund verriet. »Wagner, Josef. Verstehe«, sagte Hartinger, obwohl er nicht wirklich verstand, was dieser Name mit dem Mord an Pater Engelbert zu tun haben sollte. Diese Unmenschlichkeiten lagen knapp achtzig Jahre
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