Josefibichl
neben Hartinger am Fenster. Sie schauten direkt in Richtung des Hofes, auf dem sich diese Geschichte zugetragen hatte.
»Und, was haben sie mit ihm gemacht?«
»Was sie mit Regimekritikern gemacht haben: Erst eingesperrt in Berlin-Moabit als politischen Gefangenen und im April 45 ganz kurz vor Kriegsende per Genickschuss hingerichtet.«
Hartinger schwieg. Frey schaute hinüber zur Partnachalm.
»Und Kathis Großtante?«, meldete sich Hartinger nach gefühlten fünf Minuten wieder zu Wort.
»Wurde erst einmal vier Monate ins Gestapogefängnis in München gesteckt. Kam wegen schweren Herzleidens im April 45 auf Urlaub wieder raus. Eigentlich ein Wunder Na ja, ein Monat später war der Krieg dann aus. Aber für sie war das alles noch nicht vorbei. Denn noch ein Wunder der Justiz folgte: Sie wurde nämlich wegen des Delikts der Schwarzschlachtung belangt. Um den Haushofer zu ernähren, hatte sie ohne Genehmigung ein Schaf und Jungvieh geschlachtet. Das hatte die Gestapo bei der Hausdurchsuchung im Dezember 44 festgestellt und akribisch notiert. Dieses Verbrechen musste natürlich geahndet werden. Rate mal, wann das Verfahren gegen sie eröffnet wurde.«
Hartinger hatte keine Lust zu raten. Er zuckte mit den Schultern.
Frey hatte das Datum natürlich parat. »Am 17. Oktober 1945.«
»Oktober 45?«, wunderte sich Hartinger. »Aber da waren die Nazis doch schon seit einem halben Jahr weg!«
»Ach so, du meinst auch, die Nazis sind kleine braune Männchen gewesen, die 1933 von einem anderen Stern auf die Erde kamen und im Mai 45 wieder in ihr Ufo stiegen und sich – schwuppdiwupp – aus dem Staub gemacht haben. Natürlich erst, nachdem sie den Planeten in Brand gesteckt hatten. Nein, nein, mein Lieber, das war nicht ganz so. Die Bäuerin Anna Zahler vom Polsterhof in Mittergraseck musste sich am 17. Oktober 45 vor dem Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen wegen Schwarzschlachterei verantworten. Denn das Verfahren von 44 war noch anhängig. Und Ordnung muss bei der deutschen Justiz sein. Zu ihrer Verteidigung brachte sie vor, dass sie keineswegs aus Profitgier das Vieh geschlachtet habe, sondern um den versteckten Haushofer zu versorgen. Sie wurde zu einer Zahlung von achtzig Reichsmark und weiteren fünf Wochen Gefängnis verurteilt.«
»Hammer.« Mehr fiel Hartinger dazu nicht ein.
»Absoluter Hammer. Wie recht du hast.« Albert Frey schaute in Richtung des Orts Garmisch-Partenkirchen. »Wenigstens wurde sie später großzügig vom Deutschen Staat entschädigt. 1953 bekam sie für jeden Tag in Gestapo-Haft fünf D-Mark zugesprochen. Fünf ganze deutsche Mark! Vier Monate mal dreißig Tage macht einhundertzwanzig Tage mal fünf Mark. Macht insgesamt sechshundert D-Mark! Das ist doch was für eine Heldin. Dafür konnte man sich 53 immerhin ein Viertel VW-Käfer leisten. Und sie musste dafür auch nur durch zwei Instanzen gehen! Ach ja, und ihr Denkmal steht überlebensgroß gleich hier unten im Portal des Skistadions, damit jeder Tourist von den Heldentaten der Zahlerin erfährt! Oder nein, halt! Ich hab‘s wieder verwechselt. Das sind ja immer noch die Figuren von Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker, die da seit Olympia 36 stehen . . .«
Hartinger war zu müde, um Freys verbitterten Vortrag länger anzuhören. Der hatte in allem, was er sagte, recht. Die Geschichte war in diesem Talkessel noch lange nicht aufgearbeitet, geschweige denn bewältigt.
Aber Hartingers Probleme waren jetzt um kurz vor fünf Uhr morgens ganz andere.
»Ich geh mir mal die Füße vertreten, bevor die Kathi und der Anton aufwachen und ich mich wieder verstecken muss. Vor denen und vor der Staatsmacht.« Er sah Albert Frey an und zupfte an dem alten Hemd aus den Beständen von Kathis Vater, das er trug. »Wenigstens kann mir das mit dem Manschettenknopf nicht passieren.«
Hartinger stieg so leise wie möglich die Dachbodenleiter hinunter, schlich die Treppe vom ersten Stock hinab in den Flur und tapste vorsichtig nach links durch den dunklen Gang in Richtung Haustür. Die war, wie in der Gegend üblich, unverschlossen. Doch dass sie einen Spalt offen stand, überraschte Hartinger.
Er hielt in der Bewegung inne und lauschte. War da ein Knarzen rechts hinter ihm zu hören gewesen? War da jemand? Oder war Hartinger selbst der Verursacher gewesen? Es knarzte wieder. Nein, er hatte sich nicht bewegt.
Er lauschte noch angestrengter in die Dunkelheit. Der Fußboden rechts am Ende des Ganges knarzte erneut. Hartinger drehte sich langsam
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