Joseph Anton
denn wenn es zum Einsatz käme, wäre das der Beweis dafür, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten. Personenschutz sei die Kunst, nichts passieren zu lassen. Der erfahrene Bodyguard akzeptierte Langeweile als Teil seiner Arbeit. Langeweile war gut. Man wollte nicht, dass die Dinge interessant wurden. Interessant war gefährlich. Alles drehte sich darum, die Dinge möglichst uninteressant zu gestalten.
Sie waren sehr stolz auf ihre Arbeit. Viele sagten ihm, stets mit den gleichen Worten, handelte es sich dabei doch offensichtlich um eine Art Mantra des ›A‹-Kommandos: »Wir haben noch nie einen verloren.« Es war ein tröstliches Mantra, eines, das er sich selbst oft vorsagte. Die beeindruckende Tatsache, dass in der langen Geschichte des Special Branch niemand, der unter dem Schutz des ›A‹-Kommandos gestanden hatte, je von einer Kugel getroffen worden war. »Die Amerikaner können das nicht von sich behaupten.« Ihnen gefiel nicht, wie die Amerikaner vorgingen. »Die lieben es, ein Problem mit Leuten einzukreisen«, was bedeutete, dass amerikanische Schutzteams stets ungewöhnlich groß waren, ein Dutzend Leute oder mehr. Jedes Mal, wenn ein amerikanischer Würdenträger das Vereinigte Königreich besuchte, führten die Sicherheitskräfte beider Länder denselben Streit über die beste Vorgehensweise. »Wir könnten die Queen zur Rushhour in einem unauffälligen Ford Cortina die Oxford Street entlangfahren, und keiner würde was merken«, sagten sie. »Für die Yanks gibt’s immer nur das große Trara, aber sie haben einen Präsidenten verloren, oder nicht? Und einen zweiten beinahe.« Wie er später noch erfahren sollte, hatte jedes Land so seine eigenen Methoden, seine eigene ›Kultur des Personenschutzes‹. In den kommenden Jahren würde er nicht nur das personenintensive amerikanische System kennenlernen, sondern auch das furchteinflößende Auftreten des französischen RAID . Die Abkürzung stand für ›Recherche Assistance Intervention Dissuasion‹. Wobei er fand, dass dissuasion , also Abschreckung , als Beschreibung dessen, wie die Jungs von RAID vorgingen, wahrlich einer großen Untertreibung gleichkam. Ihre italienischen Vettern zogen es dagegen vor, in hohem Tempo und mit plärrenden Hupen durch die Stadt zu jagen, Gewehre aus den Fenstern. Alles in allem war er daher ganz froh mit Phil und Dick und ihrer zurückhaltenden, sanften Art des Vorgehens.
Sie waren nicht vollkommen. Fehler kamen vor. Einmal wurde er zu Hanif Kureishi gebracht. Am Ende des Abends mit Hanif sollte er nach Hause gefahren werden, als sein Freund auf die Straße sprintete, wie ein Honigkuchenpferd grinste und über dem Kopf eine Waffe im Lederholster schwenkte. »He!«, rief Hanif begeistert. »Warte. Du hast deine Wumme vergessen.«
*
Er begann zu schreiben. Eine traurige Stadt, die traurigste von allen Städten, so todtraurig, dass sie sogar ihren Namen vergessen hatte . Er war auch jemand, der seinen Namen vergessen hatte; er wusste, wie sich die traurige Stadt fühlte. »Endlich!«, schrieb er Anfang Oktober in sein Tagebuch, und einige Tage später: »Erstes Kapitel fertig!« Als er knapp dreißig, vierzig Seiten geschrieben hatte, zeigte er sie Zafar, weil er wissen wollte, ob er auf dem richtigen Weg war. »Danke, Dad«, sagte er. »Es gefällt mir.« Er meinte der Stimme seines Sohnes nicht gerade wilde Begeisterung anzumerken. »Ehrlich?«, hakte er nach. »Bist du dir sicher?« – »Ja, doch«, sagte Zafar, um dann nach einer Pause hinzuzusetzen: »Einige Leute könnten es allerdings langweilig finden.« – » Langweilig ?« Ein gequälter Aufschrei, wo raufhin ihn Zafar sofort zu besänftigen suchte. »Ich lese es natürlich trotzdem, Dad. Ich sag nur, einigen Leuten könnte es so gehen …« – »Warum denn langweilig?«, wollte er wissen. »Was daran ist langweilig?« – »Na ja«, erwiderte Zafar, »irgendwie ist es einfach nicht spritzig genug.« Eine erstaunlich präzise Kritik. Er verstand sofort, was gemeint war. »Spritzig?«, sagte er. »Spritzig kann ich. Gib mir das da wieder.« Und er riss seinem besorgten Sohn das Manuskript fast aus der Hand und sagte dann, um seinen Sohn zu beruhigen, dass er sich nicht ärgere, nein, dass sein Einwand sogar sehr hilfreich gewesen sei, die wohl beste Kritik, die er je gehört hatte. Einige Wochen später gab er Zafar die überarbeiteten Seiten und fragte: »Und? Wie lesen sie sich jetzt?« Der Junge strahlte glücklich. »Jetzt ist’s gut«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher