Joseph Anton
er.
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Herbert Read (1893–1968) war ein englischer Kritiker – ein Verfechter der Kunst von Henry Moore, Ben Nicholson und Barbara Hepworth – und ein Dichter des Ersten Weltkrieges, ein Existentialist und Anarchist. Seit vielen Jahren wurde im Institut für zeitgenössische Kunst, dem ICA , in der Mall in London alljährlich ein Vortrag in Reads Namen und zu seinem Gedenken abgehalten. Im Herbst des Jahres 1989 schickte das ICA an Gillons Büro einen Brief, in dem man fragte, ob Salman Rushdie bereit sei, 1990 diesen Vortrag zu halten.
Post erreichte ihn nur auf Umwegen. Sie wurde von der Polizei bei Agentur und Verlag abgeholt, auf Sprengstoff geprüft und dann geöffnet. Obwohl man ihm stets versicherte, dass keine Post zurückgehalten wurde, verriet ihm die relativ geringe Anzahl beleidigender Briefe, dass es eine Art Filterprozess geben musste. Beim Yard machte man sich Sorgen um seinen Geisteszustand – Würde er dem Druck standhalten? Würde er den Verstand verlieren? –, weshalb man es zweifellos für das Beste hielt, ihm die schriftlichen Attacken der Gläubigen vorzuenthalten. Der Brief vom ICA hatte es jedenfalls durchs Netz geschafft; er antwortete und nahm die Einladung an. Er wusste gleich, dass er über Bilderstürmerei schreiben wollte, dass er sagen wollte, in einer offenen Gesellschaft könne es keine Gedanken oder Ansichten geben, die unantastbar und immun gegen Herausforderungen sind, ob nun philosophischer, satirischer, tiefsinniger, oberflächlicher, ausgelassener, respektloser oder scharfsinniger Art. Freiheit verlangt nur, dass der Raum der Rede selbst geschützt bleibt. Freiheit liegt im Wortwechsel, nicht in der Beilegung von Differenzen, liegt in der Fähigkeit, miteinander zu streiten, auch wenn es um das geht, was der jeweils andere über alles schätzt; in einer freien Gesellschaft geht es nicht still, sondern turbulent zu. Der Basar sich widersprechender Ansichten ist der Ort, an dem die Freiheit zu Wort findet. Diese Überlegungen würden zum vortraglangen Essay ›Ist nichts heilig?‹ führen, und dieser Vortrag, sobald er vereinbart und angekündigt worden war, würde zur ersten ernsthaften Konfrontation mit der britischen Polizei führen. Der Unsichtbare versuchte, wieder sichtbar zu werden, und Scotland Yard gefiel das überhaupt nicht.
Sehr geehrter Herr Shabbir Akhtar,
ich habe keine Ahnung, warum der Rat der Moscheen in Bradford, dessen Mitglied Sie sind, glaubt, er könne sich zum kulturellen Schiedsrichter aufschwingen, zum Literaturkritiker und Zensor. Allerdings weiß ich, dass die Formulierung ›die liberale Inquisition‹, die Sie geprägt und auf die Sie offenbar über die Maßen stolz sind, eine Phrase ohne eigentliche Bedeutung ist. Die Inquisition, erinnern wir uns, war ein etwa im Jahre 1232 von Papst Gregor IX . geschaffenes Tribunal, dessen Zweck in der Unterdrückung der Häresie in Norditalien und Südfrankreich bestand und das berüchtigt für die von seinen Schergen angewandte Folter wurde. Die literarische Welt, in der es von Leuten wimmelt, die Sie und Ihre Kollegen wohl Ketzer und Abtrünnige nennen würden, hat offenkundig nur wenig Interesse daran, die Ketzerei zu unterdrücken. Man könnte sogar behaupten, dass die Ketzerei für viele ihrer weltweiten Mitglieder zur Hauptbeschäftigung gehört. Vermutlich dachten Sie eher an die Spanische Inquisition, ebenfalls eine Bande von Folterern, die sich zweieinhalb Jahrhunderte später, im Jahre 1478, zusammenfand, hat sie doch den Ruf, antiislamisch gewesen zu sein. Allerdings verfolgte die Spanische Inquisition jene am stärksten, die sich vom Islam abgewandt haben. Ach, und auch die, die dem Judentum den Rücken kehrten. Ex-Juden und Ex-Muslime werden in der modernen literarischen Welt nun allerdings eher selten gefoltert. Meine eigenen Daumenschrauben und die Folterbank sind schon, nun, seit einer Ewigkeit nicht mehr in Gebrauch. Ein beachtlicher Prozentsatz von Ihresgleichen – und damit meine ich den Rat der Moscheen, die Gläubigen, die er zu vertreten behauptet, und all seine Anhänger unter den Geistlichen Englands und im Ausland – war bereit, die Hand zu heben, als sie gefragt wurden, ob sie es für nötig hielten, einen Schriftsteller wegen seines Werkes zu exekutieren. (Berichtet wurde, erst am vergangenen Freitag hätten dies dreihunderttausend Muslime in den Moscheen Englands getan.) Laut einer kürzlich erfolgten Gallup-Umfrage glauben vier von fünf Muslimen, dass etwas gegen diesen
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