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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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erst mal meditieren.« Er begann, Kissen von den Sofas zu sammeln und auf dem Boden zu verteilen. Der indische Schriftsteller dachte: Wie ungewöhnlich: ein Amerikaner bringt mir bei, wie man om shantih om sagt . Laut aber erklärte er lausbübisch: »Ich meditiere nicht, wenn Andrew Wylie nicht mitmacht.« Und so hockten sie mit überkreuzten Beinen auf dem Boden und sangen shantih (Frieden), während eine Armee von Männern mit ihrem Science-Fiction-Waffenarsenal zusah und kugelsichere Matratzen das Licht der kalten Dezembersonne verdeckten. Sobald er zu Ende meditiert hatte, verteilte Ginsberg ein paar Broschüren über Buddhismus und ging.
    Kurz darauf kam Elizabeth unangemeldet, und Lieutenant Bob führte sie in einem Pulk bewaffneter Männer herein. »Ist okay, Lieutenant Bob«, sagte er. »Elizabeth ist in Ordnung. Sie gehört zu mir.«
    Kennedy kniff die Augen zusammen. »Wenn ich Sie umbringen wollte«, sagte er mit irrem Jack-Nicholson-Blick, »wäre sie genau diejenige, die ich auf Sie ansetzen würde.«
    »Wie das, Lieutenant Bob?«
    Kennedy deutete auf einen Tisch, auf dem man Früchte und Käse serviert sowie Besteck und Teller ausgelegt hatte. »Wenn diese Frau eine der Gabeln hier nehmen und sie Ihnen in den Hals stechen würde, wäre ich meinen Job los, Sir.«
    Nur mit Mühe gelang es Andrew Wylie, ein ernstes Gesicht zu wahren, und für den Rest der Reise wurde Elizabeth nur noch die ›irre Gabelstecherin‹ genannt.
    An jenem Abend fuhren sie in der weißen gepanzerten Stretchli mousine inmitten der neun Autos umfassenden Wagenkolonne, begleitet von Motorrädern, Blaulicht und Sirenen, mit neunzig Stundenkilometer über die 125th Street zum Gelände der Columbia University, und ganz Harlem schaute von den Bürgersteigen zu, wie diese diskrete Operation beinahe geisterhaft und kaum wahrnehmbar vorüberglitt, während Andrew sich vor Begeisterung angesichts dieser unfassbaren Überspanntheit kaum wieder einkriegte. »Das ist der beste Tag in meinem ganzen Leben !«
    Dann aber war der Spaß, der leicht hysterische, schwarzhumorige Spaß, vorbei. Hinter einem Vorhang verborgen, stand er in der Low Library. Als man ihn ansagte, hörte er ein schockiertes Keuchen, und er trat vor, aus der Unsichtbarkeit ans Licht. Er wurde mit herzlichem Applaus begrüßt. Das Licht blendete ihn, und er konnte den Saal nicht sehen, also hatte er keine Ahnung, wer dort war, doch musste er seine Rede halten, seine tausend Tage im Ballon beschreiben. Er bat das Publikum, über religiöse Verfolgung nachzudenken sowie darüber, was ein menschliches Leben wert ist, und so begann die langwierige Arbeit, seinen Fehler ungeschehen, das Gesagte ungesagt zu machen, sich wieder unter die Fürsprecher der Freiheit einzureihen und Gott hinter sich zu lassen. Er würde den Fehler noch jahrelang viele, viele Male ungesagt machen müssen, doch als er ihn an jenem Abend vor dem erhabenen Publikum der Columbia eingestand und aufs Neue für das eintrat, woran er leidenschaftlich glaubte – Die Redefreiheit ist einfach alles , sagte er, die Redefreiheit ist das Leben selbst –, da fühlte er sich sauberer, und er meinte aus der teilnahmsvollen Reaktion des Publikums Mitgefühl herauszuhören. Wäre er ein religiöser Mensch, würde er sagen, er fühle sich, als wäre ihm die Absolution erteilt und er von seiner Sünde freigesprochen worden. Doch er war kein religiöser Mensch und würde es auch niemals wieder vortäuschen. Er war stolz darauf, ein ungläubiger Mensch zu sein. Bete nicht für mich , hatte er seiner Mutter gesagt. Kapierst du nicht? Das ist nicht unsere Liga.
    Kaum war die Rede gehalten, warf ihn Amerika umstandslos wieder hinaus. Es blieb nicht einmal Zeit, sich von Andrew oder Elizabeth zu verabschieden. Lieutenant Bob saß vorn in der weißen Limo, als sie durch die Nacht zum MacArthur Airport in Islip auf Long Island rauschten, wo das Flugzeug wartete, das ihn zurück nach Dulles brachte. Mit dem Militärpersonal bestieg er die Transportmaschine der RAF , und dann war er wieder in seinem Käfig, doch war die Reise gemacht, und er hatte die Rede gehalten. Das erste Mal war am schlimmsten, dennoch hatte er alle Schwierigkeiten überwunden, und vor ihm lag nun das zweite, das dritte und das vierte Mal. Noch mochte kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein, doch war er jetzt wenigstens im Tunnel.
    *
    In der Taschenbuchausgabe von Heimatländer der Phantasie ersetzte der ›Ballon‹-Essay den ›Bekehrungstext‹, so

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