Joseph Anton
André Ouellet sagte: Die Tatsache, dass Rushdie überlebt hat, gibt der Welt Hoffnung auf Freiheit.
Eine halbe Million Exemplare des Auster-DeLillo-Flyers (das Geld dafür war schließlich doch noch zusammengekommen) waren an dem Tag verteilt worden. Pour Rushdie erschien in den Vereinigten Staaten unter dem Titel For Rushdie. Und Frances und Carmel zogen mit Michael Foot, Julian Barnes und anderen zur iranischen Botschaft und überbrachten ein Protestschreiben, hatten aber versäumt, Journalisten davon in Kenntnis zu setzen. Außerdem sagte Carmel dem BBC -Radio, die Fatwasei auf seine Familie und seine Freunde ausgeweitet worden. Eine ungeschickte und unzutreffende Aussage, welche die ihm am nächsten stehenden Menschen in Gefahr bringen konnte. Eine Minute nachdem die Meldung in den Nachrichten kam, rief Clarissa an, um zu fragen, was los sei. John Diamond war der Nächste, und für den Rest des Tages musste er alles daransetzen, die BBC zu einem Widerruf zu überreden.
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Gillon hatte versucht, den britischen Druck und Vertrieb für die Verse auf die Beine zu stellen, und konnte jetzt einen Erfolg vermelden. Bill Norris, der Chef der Vertriebsgesellschaft Central Books mit der literarischen Abteilung Troika Books, übernahm die Aufgabe freudig und ohne Angst. Weil Central antifaschistische Literatur vertrieb, bekämen sie dauernd Drohungen, sagte Norris. Der Firmensitz stand bereits unter Schutz. Ihnen war am Vertrieb des Buches gelegen, nicht am Skandal. Norris atmete tief durch und sagte Ja. Wir machen das. Wir lassen uns von diesen Mistkerlen nicht unterkriegen.
Dass er so lange nicht mehr im Land der Literatur gelebt hatte, machte ihm schwer zu schaffen. Fast vier Jahre waren vergangen, seit er Harun und das Meer der Geschichten beendet hatte, und mit dem Schreiben ging es nach wie vor nur mühsam voran, er konnte sich nicht konzentrieren und wurde allmählich panisch. Panik konnte gut sein, sie hatte ihn schon bei anderen Gelegenheiten ans Arbeiten gekriegt, doch dies war die längste – ja, der Begriff traf zu – Schreibblockade seines Lebens. Sie machte ihm Angst, und er wusste, dass er sie durchbrechen musste. Im März musste es sich entscheiden. Frances Coady, seine Verlegerin von Random House UK , hatte vorgeschlagen, »vielleicht ein kleiner Erzählungsband, um den Lesern die Zeit nicht lang werden zu lassen«, das könnte ihm wieder auf die Sprünge helfen. Das Wichtigste war, zu schreiben, und er schrieb nicht. Nicht wirklich. Überhaupt nicht.
Er versuchte sich daran zu erinnern, wie sich das Schreiben anfühlte, und zwang sich, die alten Gewohnheiten wieder aufleben zu lassen. Das in sich Hineinhorchen, das Warten, das Vertrauen in die Erzählung. Die zögerliche oder zügige Entdeckung, wie der Korpus einer fiktionalen Welt zu zerlegen ist, wo man in ihn eindringt, wie man ihn durchreist und wie man ihn wieder verlässt. Und der Zauber der Konzentration, als fiele man in einen tiefen Brunnen oder in ein Zeitloch. Als fiele man zwischen die geschriebenen Zeilen, auf der Suche nach der allzu seltenen Ekstase. Und die harte Arbeit der Selbstkritik, die gnadenlose Durchleuchtung der Sätze mit dem, was Hemingway seinen Shit Detector nannte. Der Frust, an die Grenzen von Können und Verstand zu stoßen. »Öffne das Universum ein wenig mehr.« Ja, er war Bellows Hund.
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Es gab seltsame Neuigkeiten: Es stellte sich heraus, das er bereits vor zwei Jahren den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur erhalten hatte, doch die österreichische Regierung hatte die Information unterm Deckel gehalten. Jetzt ging ein Aufschrei der Empörung durch die österreichische Presse. Der österreichische Kultusminister Rudolf Scholten räumte ein, blauäugig gewesen zu sein, und bat um ein Telefongespräch mit Dr. Rushdie. Als Dr. Rushdie ihn anrief, zeigte sich der Minister freundlich und reumütig: Es sei ein Fehler gewesen, und schon bald werde man alle nötigen Vorkehrungen treffen. Das Rätsel um den ›geheimen‹ österreichischen Preis sorgte in ganz Europa für Aufmerksamkeit. Lediglich die englischen Zeitungen hielten es nicht für nötig, darüber zu berichten. Einzig der gute alte Independent brachte einen Artikel, in dem er Taslima Nasrins mutige Entscheidung, ›offen‹ zu leben (das hieß, sie konnte ihre schwerbewachte Wohnung den ganzen Tag nicht verlassen und sich nur im Schutz der Dunkelheit und in einem Wagen mit verdunkelten Scheiben hinauswagen), mit dem feigen Bedürfnis
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