Joseph Anton
begangenen Verbrechen freisprechen ließ. Derrida war anderer Meinung. Nicht der Islam, sondern die Verfehlungen des Westens würden den ›Zorn des Islam‹ antreiben. Ideologie habe damit nichts zu tun, es sei eine Machtfrage.
Die Unruhe der RAID -Leute wuchs mit jeder Stunde. Sie vermeldeten eine Bombendrohung in der Oper, wo das Schriftstellertreffen stattfand. Ein verdächtiger Kanister sei aufgetaucht, es werde eine kontrollierte Explosion durchgeführt. Es war ein Feuerlöscher. Der Knall ertönte während einer Rede von Günter Wallraff und brachte ihn vorübergehend aus dem Konzept. Er litt an Hepatitis und war unter großer Mühe nach Straßburg gekommen, um ›bei euch zu sein‹.
An dem Abend wurde er auf Arte gebeten, auf Prousts Fragebogen zu antworten. Sein Lieblingswort? »Komödie.« Welches Wort verabscheue er am meisten? »Religion.«
Als er die Air-France-Maschine für den Rückflug bestieg, wurde eine junge Deutsche hysterisch und musste kreidebleich und schluchzend aus dem Flugzeug gebracht werden. Es gab eine Durchsage, um alle zu beruhigen. Die Passagierin habe das Flugzeug verlassen, weil sie sich nicht wohlgefühlt habe. Ein farbloser Engländer stand auf und zeterte. »Oh, aha, keiner von uns fühlt sich wohl . Ich fühle mich auch nicht wohl. Vielleicht sollten wir alle aussteigen.« Er und seine Frau, eine Wasserstoffblonde mit Betonfrisur, neonblauem Chanelkostüm und reichlich Goldschmuck, verließen das Flugzeug wie Herr und Frau Moses an der Spitze des Exodus. Glücklicherweise blieb es dabei, und Air France war bereit, ihn nach Hause zu fliegen.
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In Teheran ließ Ayatollah Jannati verlauten, die Fatwa stecke den Feinden des Islam in der Kehle, könne aber nicht widerrufen werden, »ehe dieser Mann stirbt«.
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Clarissa ging es besser. An Heiligabend bestand sie darauf, dass Zafar bei ihr feierte. Er und Elizabeth gingen zu Graham und Candice und besuchten abends Jill Craigie und Michael Foot, der mit irgendetwas Unaussprechlichem im Krankenhaus gewesen war und sich redlich bemühte, es herunterzuspielen. Irgendwann gestand Jill, er habe einen Darmbruch gehabt. Er hatte sich übergeben, konnte nichts essen, und weil sie schon fürchteten, es wäre Krebs, war die Diagnose eine Riesenerleichterung. »Seine Organe sind alle in Ordnung«, sagte sie, auch wenn eine Operation in seinem Alter natürlich eine große Belastung sei. »Andauernd hat er mir gesagt, was ich machen sollte, wenn er nicht mehr sei , aber ich habe gar nicht hingehört«, sagte Jill trocken. (Damals konnte niemand ahnen, dass sie ihn um elf Jahre überleben würde.)
Michael hatte für sie beide Geschenke, für Elizabeth die zweite Auflage von Hazlitts Lives of the Poets und für ihn eine Erstausgabe der Lectures on the English Comic Writers . Michael und Jill waren so liebevoll und herzlich, dass er dachte: »Wenn ich mir meine Eltern hätte aussuchen dürfen, wären es diese hier gewesen.«
Seine eigene Mutter war wohlauf und in Sicherheit und achtundsiebzig Jahre alt, und er vermisste sie.
Meine geliebte Amma,
wieder geht ein Jahr dem Ende zu, aber wir glücklicherweise nicht. Apropos gehen, wie geht es Deiner Arthritis? Als ich noch in Rugby war, fingen Deine Briefe immer mit der Frage an: »Bist Du dick oder dünn?« Dünn hieß, dass sie Deinem Jungen nicht anständig zu essen gaben. Dick war gut. Nun, ich werde dünner, aber Du solltest froh darüber sein. Unterm Strich ist dünn besser. In meinen Briefen aus der Schule versuchte ich immer zu verbergen, wie unglücklich ich dort war. Sie waren meine erste Fiktion, »24 Runs beim Kricket gemacht«, »Habe viel Spaß«, »Ich bin wohlauf und guter Dinge«. Als Du dahinterkamst, wie sehr ich dort gelitten hatte, warst Du entsetzt, doch da war ich bereits auf dem Weg ins College. Das war vor neununddreißig Jahren. Schlechte Nachrichten haben wir einander stets verheimlicht. Du genauso wie ich. Du pflegtest Sameen Dein Herz auszuschütten und dann zu sagen: »Aber sag Salman nichts davon, es würde ihn nur aufregen.« Wir sind vielleicht ein komisches Paar. Wie dem auch sei, das Haus, in dem wir leben, hat ›Fuß gefasst ‹ , um im Polizeijargon zu reden. Es erregt keine Aufmerksamkeit bei den Nachbarn. Es scheint, als hätten wir’s geschafft, und in unserem Kokon ist es manchmal fast friedlich, und ich kann arbeiten. Das Buch nimmt Formen an, und ich kann die Ziellinie sehen. Geht ein Buch gut voran, erscheint selbst in einem so seltsamen Leben alles
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