Joseph Anton
zahllosen widersprüchlichen Kehlen dieses vielköpfigen geistlichen Gargantua. (Natürlich stellte sich dieses Gerücht als unwahr heraus; ein gasförmiges Nichts.) Die vollständige, offizielle Antwort würde ihre Zeit brauchen.
Inzwischen fuhren er und Elizabeth auf Einladung von Kultusminister Rudolf Scholten und seiner Frau Christine für ein paar Tage nach Österreich. Die beiden waren sehr schnell gute Freunde geworden und wollten, dass sie ein paar Tage ›aus ihrem Käfig‹ rauskämen. Bei ihrer Ankunft platzen sie mitten in eine Familientragödie.
Rudolfs Vater war am Morgen tödlich von einem Auto überfahren worden. »Wir sollten nicht bleiben«, sagte er sofort, doch Rudolf bestand darauf. »Es wird uns guttun, euch hier zu haben.« Auch Christine sagte: »Ihr solltet wirklich bleiben.« Wieder war ihm eine Lektion in Haltung und Stärke zuteil geworden.
Zum Abendessen waren sie in das vor Kunst strotzende Haus von Scholtens engem Freund André (›Franzi‹) Heller eingeladen, dem universalen Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Produzenten und Schöpfer einzigartiger öffentlicher Installationen und spektakulärer Kunst-Theaterevents in der ganzen Welt. Heller war ganz aufgeregt wegen des von ihm initiierten großen Festes für Freiheit , das in zwei Tagen auf dem Heldenplatz stattfinden sollte, auf dem Hitler 1938 den »Anschluss« Österreichs verkündet hatte. Dort eine Antinazidemonstration abzuhalten, kam einer Rückeroberung gleich, einer Reinigung des Platzes vom Makel der Nazivergangenheit und war ein Schlag gegen den aufkeimenden Neonazismus der Gegenwart. Nazistische Untertöne hatte es in Österreich immer gegeben, und die neonazistische Rechte unter Jörg Haider hatte wachsenden Zulauf. Die österreichische Linke wusste, das sie einen starken Gegner hatte, und übte sich in einer progressiven und leidenschaftlichen Antwort. »Sie müssen bleiben«, meinte Franzi Heller plötzlich. »Sie müssen da sein, es ist wichtig, dass Sie auf der Bühne stehen und von Freiheit sprechen.« Zuerst zögerte er, unsicher, ob er sich in die Geschichte anderer Nationen einbringen sollte, doch Heller blieb hartnäckig. Also entwarf er einen kurzen Text, den Rudolf und Franzi übersetzten und den er übte wie ein Papagei; Wörter einer Sprache, die er nicht verstand.
Am Tag der Heldenplatz-Demo stürzte die Sintflut auf Wien herab und ließ den Verdacht aufkommen, dass, wenn es irgendeinen Gott gab, er womöglich Neonazi war wie Jörg Haider. Oder vielleicht hatte Haider eine Art wagnerianischen Draht zum Wettergott Froh und ihn in opernhaftem Gebet um diesen weltzerstörerischen Ragnarök-Regen angefleht. Franzi Heller war extrem nervös. Wenn nur we nige Leute kämen, wäre das eine Katastrophe, ein Propagandage schenk an Haider und seine Anhänger. Seine Sorge war unbegründet. Im Laufe des Morgens füllte sich der Platz. Es waren junge Menschen, die sich in Plastik gehüllt und mit unzureichenden Regenschirmen bewaffnet hatten oder sich achselzuckend dem Monsun ergaben. Mehr als fünfzigtausend von ihnen füllten den verrufenen alten Platz mit ihren Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Auf der Bühne spielten Bands oder wurden Reden gehalten, doch der Star des Abends war die Menge, die durchweichte, ungetrübte, großartige Menschenmenge. Er sagte seine wenigen deutschen Sätze auf, und die durchnässte Masse jubelte. Sein leitender Sicherheitsbeamter Wolfgang Bachler war ebenfalls guter Dinge. »Genau so muss man’s Haider geben«, jubelte er.
Jenseits der Grenze bekam die angesehene Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel auf der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen und sprach sich zum allgemeinen Entsetzen begeistert für die Fatwa gegen den Verfasser des von ihr zuvor verurteilten Buches Die satanischen Verse aus. Angesichts der lautstarken Empörung versuchte sie sich in der ›Cat-Stevens-Abwehr‹ – das habe sie nicht gesagt –, doch als zahlreiche Menschen sich bereit erklärten, dies der Presse unter Eid zu bestätigen, äußerte sie knapp, sie wolle sich entschuldigen, was allerdings nicht geschah. Die dreiundsiebzigjährige Grande Dame mochte eine bedeutende Wissenschaftlerin sein, doch bewahrte sie das nicht vor der Mitgliedschaft in der Cat-Stevens-Trottelpartei.
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Artikel 19 hatte eine Reise nach Dänemark arrangiert, wo er den Premierminister und den Außenminister treffen sollte, und obwohl er immer stärker das Gefühl hatte, dass
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