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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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ein. Männer mit roten Weihnachtsmannmützen schleppten Kisten mit traditionellem Winterbier herein, und er bekam eine der ersten Flaschen überreicht, zusammen mit einer Weihnachtsmannmütze, die er sich sofort aufsetzte. Irgendjemand machte ein Foto: Der Mann, den Dänemark für zu gefährlich gehalten hatte, um ihn einreisen zu lassen, saß wie jeder andere mit einem Partyhut auf dem Kopf in einer stinknormalen Bar und trank Bier. Dieses ostentativ harmlose Foto, das am nächsten Morgen alle Titelseiten zierte, hätte die dänische Regierung beinahe zu Fall gebracht. Der Premierminister Poul Nyrup Rasmussen entschuldigte sich öffentlich für sein Veto. Es kam zu einem Treffen mit Rasmussen, der ihm zu seinem kleinen Sieg gratulierte. »Ich habe nun mal beschlossen zu kämpfen«, sagte er dem perplexen Premierminister. »Ja«, entgegnete Rasmussen beschämt, »und das haben Sie sehr gut gemacht.«
    *
    Er wollte an etwas anderes denken. Als das Jahr begann, in dem er fünfzig und zum zweiten Mal Vater werden sollte, war ihm klar, dass er die Nase voll davon hatte, um Flugzeugplätze zu kämpfen, sich über Beschimpfungen in der Zeitung, in seinen vier Wänden hausende Polizisten, kungelnde Politiker und geheime, von Mord faselnde Mr Mornings und Mr Afternoons aufzuregen. Sein neues Buch lebte in seinem Kopf, und Elizabeth trug neues Leben in sich. Für sein Buch las er Rilke, hörte Gluck, schaute ein grieseliges Video des großartigen brasilianischen Films Orfeu Negro und stellte erfreut fest, dass es in der indischen Mythologie einen umgekehrten Orpheus-Mythos gab: Liebesgott Kama, der von Shiva im Zorn getötet und nur auf das Flehen seiner Frau Rati hin wieder zum Leben erweckt wird, Eurydike rettet Orpheus. Langsam begann sich ein Dreieck vor seinem inneren Auge zu drehen, an dessen Spitzen Kunst, Liebe und Tod standen. Konnte die von Liebe beflügelte Kunst den Tod überwinden? Oder wurde die Liebe trotz der Kunst unweigerlich durch den Tod vernichtet? Oder vielleicht konnte die Kunst durch ihre Reflexion über Liebe und Tod beides übersteigen. Er hatte Sänger und Liederschreiber im Kopf, weil Musik und Dichtkunst in der Orpheus-Sage untrennbar miteinander verbunden waren. Doch der Alltag ließ sich nicht ausblenden. Ständig zerbrach er sich den Kopf darüber, was für ein Leben er dem Jungen bieten könnte, der aus dem Nichts auf dem Weg zu ihm in diese Welt war, um … was dort zu finden? Helen Hammington und ihre Truppen, die ihm auf Schritt und Tritt an den Fersen klebten? Er vermochte nicht daran zu denken. Doch er musste. Seine Fantasie wollte sich emporschwingen, doch er hatte Bleikugeln an den Fußgelenken. Ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, hatte Hamlet gesagt, doch Hamlet hatte nicht mit dem Special Branch leben müssen. Wärest du mit vier schlafenden Polizisten in eine Nussschale eingesperrt gewesen, o Prinz von Dänemark, hättest du gewiss böse Träume gehabt.
    Im August 1997 würde sich die indische Unabhängigkeit zum fünfzigsten Mal jähren, und zu diesem Anlass hatte man ihm angeboten, eine Anthologie indischer Schriftsteller herauszugeben. Er hatte Elizabeth gebeten, ihm zu helfen. So hätten sie ein gemeinsames Projekt, das sie von den gemeinsamen Sorgen über ihr Leben ablenkte.
    Er hatte mit der Polizei über eine Systemänderung gesprochen. Elizabeth und er mussten ein Zimmer für das Baby herrichten und womöglich ein Kindermädchen finden, das bei ihnen wohnte. Es war nicht länger möglich, Übernachtungsmöglichkeiten für vier Polizisten zur Verfügung zu stellen, die schlafend sowieso nicht viel ausrichten konnten. Ausnahmsweise fanden seine Vorschläge bei Scotland Yard Gehör. Es wurde vereinbart, dass in seinem Wohnhaus keine Polizisten mehr übernachten würden. Er würde ein Tagesteam haben sowie eine aus zwei Beamten bestehende Nachtschicht, die sich im ›Polizeiwohnzimmer‹ aufhalten und ihre Bildschirme überwachen würde. Auf diese Weise hätte er endlich ein ›eigenes Team‹, das nicht aus Ersatzleuten anderer Teams bestand, sondern ausschließlich ihm zugeteilt war, und das sollte sein Leben vereinfachen. Als die neue Vereinba rung Anfang Januar 1997 in Kraft trat, fiel ihm auf, wie schlecht gelaunt und mürrisch die Beamten waren. Ihm ging ein Licht auf: Natürlich, wegen der Überstunden.
    Einer der großen Vorzüge, zu einem ›verdeckten Schutzeinsatz‹ wie Operation Malachite

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