Joseph Anton
Sich zu verhalten, als wäre ihm das, was er in der Weih nachtsbaumfestung gehört hatte, nie zu Ohren gekommen. Die einzige Alternative wäre, sich wieder zum Gefangenen zu machen, und dazu war er nicht bereit. Also: Ja, bitte, Andrew. Wir machen das. Wenige Tage darauf ließ Rab Connolly ihn wissen, Mr Morning und Mr Afternoon seien inzwischen davon überzeugt, die Killer meinten, er sei in Großbritannien zu gut geschützt, deshalb könnten sie versuchen, ihn auf einer Auslandsreise umzubringen. Und er wollte zwei Monate ohne Schutz auf Long Island verbringen und Elizabeth und Zafar mitnehmen! Wieder einmal fühlte er sich wie der Fahrer des Holden, der von einer Wagenladung Scheiße erwischt wird und mit den Menschen, die er am meisten liebt, auf einen Baum zurast. Er redete mit Elizabeth. Sie wollte dennoch fahren. Also, scheiß drauf, sie würden es tun und damit beweisen, dass es möglich war.
Er reiste nach Barcelona, um einen Vortrag zu halten. Er flog nach Amerika und hielt eine Rede vor den Absolventen des Bard College. Niemand versuchte ihn zu töten. Doch der im Exil lebende iranische Dissident Reza Mahlouman, der zu Zeiten des Schah Erziehungsminister gewesen war und im Pariser Vorort Créteil still vor sich hin gelebt hatte, wurde tot aufgefunden. Zwei Schüsse in den Kopf und einer in die Brust. Die Welt, die nach dem Erscheinen von Des Mauren letzter Seufzer ein wenig heller geworden war, verdunkelte sich wieder. Im Geiste versuchte er immer wieder, ein Happyend für seine Geschichte zu finden, doch ihm fiel keines ein. Vielleicht würde es keines geben. Zwei Schüsse in den Kopf und einer in die Brust. Das war auch ein mögliches Ende.
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Elizabeth war noch immer nicht schwanger, und die Spannung zwischen ihnen nahm abermals zu. Wenn sie nicht bald schwanger werden würde, würde sie auf künstlicher Befruchtung bestehen, obgleich die Erfolgsaussichten wegen seines Chromosomenproblems erheblich gemindert waren. Und sollte sie doch schwanger werden, bestand die Gefahr, dass ihre sorgfältig gehütete Anonymität aufflog und ihr Wohnort in der Bishop’s Avenue allgemein bekannt würde. Ihr Haus würde sich in ein Feldlager verwandeln; und überhaupt, wie sollten sie in dem Albtraum, in dem sie zu leben gezwungen waren, ein Kind großziehen? Doch ihr überwältigendes Bedürfnis und seine Entschlossenheit, gemeinsam ein wirkliches Leben zu leben, stemmten sich gegen jedes logische Argument, und deshalb würden sie nicht aufgeben, es weiter versuchen und alles tun, was nötig war.
Vijay Shankardass rief mit hoffnungsvollen Neuigkeiten aus Indien an. Der Außenminister der neuen indischen Regierung, Inder Gujral, habe sich dafür ausgesprochen, dass er das Land wieder besuchen dürfe, und der Innenminister sei der gleichen Meinung. Es bestand also die Aussicht auf ein Ende seines langen Exils.
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Andrew hatte sein Abstract von Der Boden unter ihren Füßen in Umlauf gebracht, das bei seinen Verlegern großen Anklang fand, doch da eine langfristige Lösung für die Taschenbuchausgabe von Die satanischen Verse noch immer nicht gefunden war, wollte Andrew bei jedem englischsprachigen Vertragsabschluss die Übernahme der Verse zur Bedingung machen. Überall sonst gab es inzwischen Taschenbuchausgaben, und auch die englische Ausgabe des Konsortiums war noch erhältlich, doch konnte diese Form der Selbstveröffentlichung keine langfristige Lösung sein. In England zeigten sich Gail Rebuck und Random House UK allmählich bereit für eine Taschenbuchneuauflage beim Imprint Vintage Books, doch der amerikanische RandomHouse-Chef Alberto Vitale dachte nicht daran. Die Lösung, überlegte Andrew, könnte die Holtzbrinck-Gruppe sein, bei deren Kindler Verlag bereits die deutsche Taschenbuchausgabe problemlos erschienen war und deren amerikanisches Verlagshaus Henry Holt unter der Führung des extravaganten Verlegers Michael Naumann ebenfalls Bereitschaft signalisierte. Er sagte Andrew, er würde gern bei Random House in Großbritannien bleiben, und Andrew war zu dem gleichen Schluss gekommen, somit waren sie ›auf einer Wellenlänge‹.
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Am Ende der letzten Eiszeit hatten sich die Gletscher von Long Island zurückgezogen und die Endmoräne zurückgelassen, in deren bewaldeten Hügeln er und Elizabeth den Sommer verbrachten. Das niedrige, geräumige weiße Haus gehörte einem älteren Ehepaar namens Milton und Patricia Grobow, das er zunächst nicht zu Gesicht bekommen durfte, weil es ihn theoretisch gar
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