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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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vergessen.
    »Was, sagtest du noch, hätte deine Mutter statt eines Gedächtnisses, um deinen Vater ertragen zu können?«
    »Ein Vergessnis.«
    »So was brauche ich auch.«
    *
    Die Parlamentswahlen standen an, und in den Umfragen lag Labour bis auf einen Ausreißer satte zwanzig Prozent vor den Konservativen. Nach dem langen, trüben Tory-Zeitalter lag Verheißung in der Luft. In den letzten Tagen vor Blairs Sieg begann Zafar mit seinen A-Levels, und seine Eltern hielten ihm die Daumen; Rab Connolly verkündete, er müsse gehen, um nach Mrs Thatcher zu sehen, an seine Stelle würde Paul Topper treten, der schlau und nett und engagiert und ein bisschen umgänglicher wirkte als Rab. Unterdessen erbot sich die Europäische Union, ihre Botschafter zurück in den Iran zu schicken, ohne sich auch nur um die kleinste Zusicherung hinsichtlich der Fatwa zu bemühen. Der Iran, der das Spiel mit immer zynischerem Geschick beherrschte, konterte damit, dass er seine Botschafter nicht zurückschickte und dem deutschen Gesandten bis auf weiteres die Einreise verbot, einfach so, weil es ihm gerade passte. Er versuchte, die Politik zu verdrängen, und ging zum ersten, äußerst erquicklichen Table-Reading des Mitternachtskinder -Drehbuchs bei der BBC .
    Journalisten schnüffelten um die Baby-Story herum, und viele waren überzeugt, das Kind sei bereits auf der Welt. Der Evening Standard rief Martin Amis an. »Haben Sie es schon gesehen?« Er fand es lächerlich, daraus ein Geheimnis machen zu müssen, doch in dieser Sache war sich Elizabeth mit der Polizei einig. Unterdessen hatte sich ein möglicher Namen herauskristallisiert. ›Milan‹, wie Kundera, doch hatte der Name auch indische Wurzeln, durch das Verb milana , mischen, vermengen, verschmelzen; deshalb Milan , eine Mischung, eine Zusammenkunft, eine Vereinigung. Kein schlechter Name für einen Jungen, in dem sich England und Indien trafen.
    Dann kam der Wahltag, und niemand dachte an ihr Baby. Er saß zu Hause und konnte nicht wählen, weil er ohne die Angabe seiner Wohnadresse sich nicht registrieren durfte. In der Zeitung hatte er gelesen, dass es selbst für Obdachlose eine Sonderregelung gegeben hatte, damit sie ihre Stimme abgeben konnten; für ihn gab es keine Sonderregelung. Er schob die grimmigen Gedanken beiseite und ging zur Wahlparty seiner Freunde. Melvyn Bragg und Michael Foot machten eine, und diesmal würde es kein böses Erwachen geben. Die Anwältin Helena Kennedy und ihr Mann, der Chirurg Iain Hutchison gaben ebenfalls eine. Die Ergebnisse kamen herein: Ein überwältigender Sieg für Blairs ›New Labour‹. Der Jubel war grenzenlos. Die Partygäste berichteten von einander Unbekannten, die in der U-Bahn freudig miteinander schwatzten – und das in England! –, und von laut singenden Taxifahrern. The skies above are clear again. Der Optimismus, dieses Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten, war wieder zurück. Jetzt würde es die dringend nötige Sozialreform geben, fünf Milli arden Pfund mussten für den sozialen Wohnungsbau bereitgestellt werden, um den unter der Thatcher-Regierung an den privaten Sektor veräußerten Bestand zu ersetzen, und die Europäische Menschenrechtskonvention würde endlich in der britischen Gesetzgebung verankert werden. Bei einer Kunstpreisverleihung wenige Monate zuvor hatte er Blair aufgefordert, die Bedeutung der Kunst für die britische Gesellschaft anzuerkennen und einzusehen, dass Kunst ›nationaler Einfallsreichtum‹ sei. Der ebenfalls anwesende Blair, von dem es hieß, Kunst interessiere ihn nicht, und der nach eigenen Angaben nur Bücher über Wirtschaft oder politische Autobiografien las, hatte geantwortet, New Labour habe es sich zur Aufgabe gemacht, die Nation mit ihrem Einfallsreichtum anzustecken, und angesichts des strahlenden Sieges dieses Abends erschien diese Antwort nicht nur als Ausflucht. In dieser Nacht wurde gefeiert. Die Wirklichkeit konnte bis zum Morgen warten. Jahre später, als Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, sollte er wieder so empfinden.
    Zwei Tage später war der dreitausendste Tag der Fatwa . Elizabeth war besonders schön, und der Geburtstermin stand kurz bevor. Clarissas Auto war aufgebrochen worden, und man hatte ihr die Brieftasche mit sämtlichen Kreditkarten sowie Zafars Sonnenbrille geklaut, die es dem Dieb offensichtlich angetan hatte. An dem Abend gingen sie zu einer Siegesparty für Tony Blair, die The Observer in einem Lokal namens Bleeding Heart

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