Joseph Anton
Lektionen.
Sie zog nach England, doch zeigte sich, dass sie unmöglich zu sammenleben konnten; in ihrem letzten Jahr machten sie mehr als ein Dutzend mal Schluss. Zwei Monate nach ihrer letzten Trennung wachte er in seinem neuen Haus in St. Peter’s Street plötzlich mitten in der Nacht auf, weil jemand im Schlafzimmer war. Nackt sprang er aus dem Bett. Sie war mit ihrem Schlüssel hereingekommen – er hatte das Schloss nicht austauschen lassen – und bestand darauf, dass sie ›reden mussten‹. Als er sich weigerte und aus dem Zimmer gehen wollte, packte sie ihn und trat ihm dabei so heftig mit der Hacke auf den Fuß, dass er in einem Zeh jedes Gefühl verlor. »Was würdest du von dem hier halten«, fragte er, »wenn ich eine Frau wäre und du ein Mann?« Das drang zu ihr durch, und sie ging. Als sie ihren ersten und einzigen Roman Vorfahren veröffentlichte, kam darin ein ziemlich unangenehmer Amerikaner vor, der sadistische Liebhaber der Heldin des Buches. In einem Interview mit dem Guardian wurde sie gefragt: »Gab Salman Rushdie die Vorlage für diesen Mann?«, und sie erwiderte: »Nicht so sehr wie in der ersten Fassung.«
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In ihm reifte ein Roman heran, doch bekam er dessen wahre Natur nicht zu fassen. Er kannte die Figuren, besaß Bruchstücke der Erzählung und die trotzköpfige Gewissheit, dass all dies trotz der enormen Differenzen ins selbe Buch gehörte. Nur die genaue Struktur und Eigenart des Buches blieb ihm verborgen. Es würde ein dickes Buch werden, so viel wusste er, eine Geschichte, die sich weit über Raum und Zeit erstreckte. Ein Buch des Reisens. Das fühlte sich richtig an. Nach der Beendigung von Scham und Schande konnte er den ersten Teil fertigstellen. So gut er es eben vermochte, hatte er die Welten gestaltet, aus denen er stammte. Nun musste er diese Welten mit der gänzlich anderen Welt verbinden, in der er sein jetziges Leben lebte. Und er begann zu ahnen, dass dies sein wahres Thema war, nicht Indien, nicht Pakistan, nicht die Politik oder der magische Realismus, das Thema, das ihn bis ans Ende seines Lebens beschäftigen würde, war die große Frage, wie sich die Welt zusammenfügte , nicht bloß, wie der Osten in den Westen floss, der Westen in den Osten, sondern wie die Vergangenheit die Gegenwart prägte, während die Gegenwart unser Verständnis der Vergangenheit änderte, und wie die imaginierte Welt, die Regionen der Träume, der Kunst, der Fantasie und ja, des Glaubens, die Grenzen durchdrangen, die sie vom Alltäglichen trennten, von jenem ›realen‹ Ort, an dem Menschen fälschlicherweise zu leben glauben.
Folgendes war mit dem schrumpfenden Planeten passiert: Menschen – Gemeinschaften, Kulturen – lebten nicht mehr abgeschlossen und allein für sich auf engem Raum. Jetzt öffneten sich all diese engen Räume für all die anderen engen Räume, jemand konnte in einem Land seine Stelle durch die Machenschaften eines Währungsspekulanten in einem weit entfernten Land verlieren, eines Menschen, dessen Namen er nicht kannte, dessen Gesicht er nie gesehen hatte, und wenn ein Schmetterling in Brasilien mit den Flügeln schlug, so versicherten uns die Theoretiker der neuen Chaoswissenschaft, konnte das in Texas einen Hurrikan auslösen. Ursprünglich lautete der erste Satz in Mitternachtskinder : »Das Wichtigste, was in unseren Leben geschieht, passiert während unserer Abwesenheit.« Auch wenn er den Satz letztlich irgendwo im Text vergrub, da er ihm am Anfang eines Romans zu sehr nach Tolstoi klang – und wenn Mitternachtskinder eines nicht war, dann Anna Karenina –, ließ ihm der Gedanke keine Ruhe. Wie erzählte man die Geschichten einer solchen Welt, einer Welt, in der Charakter nicht mehr unbedingt Schicksal bedeutete, in der man sein Schicksal nicht durch eigene Entscheidungen bestimmte, sondern dies von Fremden bestimmt wurde, eine Welt, in der die Ökonomie wie eine Fügung wirkte? Oder wie eine Bombe?
Er saß im Flugzeug von Sydney zurück nach Hause, noch aufgewühlt von den ersten überwältigenden Tagen mit Robyn, griff nach seinem kleinen schwarzen Notizbuch und zwang sich, um zur Ruhe zu kommen, über sein halbfertiges Buch nachzudenken. Folgendes hatte er: ein Häuflein Migranten oder ›Immigranten‹ wie die Engländer sagten, Einwanderer aus Indien, Pakistan und Bangladesch, deren jeweilige Reisen es ihm erlaubten, das Zusammenfügen, aber auch die Zusammenhangslosigkeit von hier und dort zu erkunden, von damals und heute , von Realität und
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