Joseph Anton
Traum. Er hatte die ersten Umrisse einer Figur namens Salahuddin Chamchawala, anglisiert zu Saladin Chamcha, der eine schwierige Beziehung zu seinem Vater hatte und sich aufs Englischsein konzentrierte. Ihm gefiel der Name ›Chamcha‹, weil darin der Name von Kafkas armem, verwandeltem Mistkäfer Gregor Samsa anklang, aber auch der von Tschitschikow, Gogols Sammler toter Seelen. Darüber hinaus gefiel ihm die Bedeutung von ›Chamcha‹ in Hindi, heißt es genau genommen doch ›Löffel‹ und bedeutet um gangssprachlich zudem ›Kriecher‹ oder ›Speichellecker‹. Chamcha würde das Porträt eines entwurzelten Mannes abgeben, der vor seinem Vater und seinem Land floh, vorm Indischsein selbst, in ein Engländertum, in dem er nie wirklich ankam, ein Schauspieler mit vielen Stimmen, dem es gutging, solange er ungesehen blieb, etwa als Radiosprecher oder als Synchronsprecher beim Film, hatte sein Gesicht doch trotz aller Anglophilie noch immer »die falsche Farbe für ihre Farbfernseher«.
Und als Gegenstück zu Chamcha … nun, vielleicht ein gefallener Engel.
1982 hatte der Schauspieler Amitabh Bachchan, der größte Kinostar Bombays, sich eine fast tödliche Verletzung an der Milz zugezogen, als er in Bangalore für einen Film seine Stunts selbst machte. In den folgenden Monaten brachten es Nachrichten über seinen Zustand stets auf die Titelseiten der Zeitungen. Als er beinahe im Sterben lag, hielt die Nation den Atem an; als er genas und das Bett verlassen konnte, war es fast, als wäre Christus wiederauferstanden. In Südindien gab es Schauspieler, die sich einen nahezu gottgleichen Ruf durch ihre Rollen als Götter in mythologicals genannten Filmen erworben hatten. Bachchan war sogar ohne eine solche Karriere zum Halbgott aufgestiegen. Was aber, wenn sich ein Gott-Schauspieler, der einen schrecklichen Unfall erlitt, in der Stunde seiner Not an Gott wandte und keine Antwort erhielt? Was, wenn solch ein Mann infolge dieses grausamen göttlichen Schweigens den Glauben, der ihn bislang durchs Leben getragen hatte, in Frage zu stellen begann, ihn gar verlor? Würde er in seinem Wahn über die halbe Welt fliehen, weil er vergessen hatte, dass man, wenn man fortläuft, sich selbst doch nie entkommen kann?
Wie würde man solch einen fallenden Star nennen? Der Name kam auf Anhieb, so als hätte er die ganze Zeit elftausend Meter über dem Meer geschwebt und nur darauf gewartet, dass er ihn sich nahm. Gibril . Der Engel Gabriel, ›Gibril Farishta‹. Gibril und Chamcha: der Engel, der von Gott verlassen wurde, und der falsche Engländer, der sich mit seinem Vater zerstritten hatte. Zwei verlorene Seelen im dachlosen Kontinuum der Unbehausten. Sie sollten seine Protagonisten sein. So viel wusste er.
Falls aber Gibril ein Engel war, war dann Chamcha ein Teufel? Konnte ein Engel auch zum Dämon werden und ein Teufel einen Heiligenschein tragen?
Die Reisen vervielfältigten sich. Hier ein Fragment von ganz woandersher. Im Februar 1983 ließen sich achtunddreißig Schiiten von ihrem Anführer Sayyad Willayat Hussain Schah davon überzeugen, dass Gott auf seine Fürbitte hin die Wasser des Arabischen Meeres für sie teilen würde, so dass sie eine Pilgerfahrt über den Meeresboden zur heiligen Stadt Kerbela im Irak machen konnten. Sie folgten ihm ins Wasser, und viele ertranken. Das Erstaunlichste an diesem Vorfall aber war, dass einige der Überlebenden trotz aller Beweise des Gegenteils behaupteten, Zeuge eines Wunders gewesen zu sein. Mittlerweile hatte er schon über ein Jahr immer wieder an dieser Geschichte gearbeitet. Er wollte nicht über Pakistan schreiben, auch nicht über Schiiten, also wurden die Gläubigen in seiner Fantasie zu Sunniten und zu Indern, ihr Anführer wurde eine junge Frau. Er musste an einen riesigen Banyanbaum denken, den er einmal in Südindien unweit von Mysore gesehen hatte, ein Baum so groß, dass man in sein Wurzelgeflecht hinein Hütten und Brunnen gebaut hatte und Wolken von Schmetterlingen in ihm lebten. In seiner Vorstellung begann ein Dorf Gestalt anzunehmen, Titlipur, Schmetterlingsdorf, und die mystische Frau bewegte sich in einer Schmetterlingswolke. Als Sunniten wollten sie nach Mekka, nicht nach Kerbela pilgern, doch der Gedanke, dass sich das Arabische Meer für sie teilen würde, gehörte noch immer zum Kern der Geschichte.
Und andere Bruchstücke drängten sich ihm auf, viele davon über die ›sichtbare, doch ungesehene Stadt‹, das London der Einwanderer zu Zeiten
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