Joseph Anton
Kritik gegen Indien selbst gerichtet werden konnten.
Um frei zu sein, muss Freiheit vorausgesetzt werden können. Und dazu gehört eine weitere Voraussetzung: dass die eigenen Werke als ein Resultat integren Arbeitens aufgenommen werden. Er hatte stets in der Annahme geschrieben, er habe das Recht, zu schreiben, wie es ihm beliebte, in dem Glauben, dass man sich mit dem Geschriebenen ernsthaft auseinandersetzte, sowie in dem Wissen, dass sich Länder, deren Schriftsteller nicht von solchen Voraussetzungen ausgehen konnten, unweigerlich zu autoritären Systemen und Tyranneien entwickelten, wenn sie es nicht bereits waren. Schriftsteller, deren Werke in den unfreien Gegenden dieser Welt verboten wurden, mussten nicht nur dieses Verbot ertragen, sondern auch, dass man sie persönlich verunglimpfte. In Indien aber waren die Voraussetzungen intellektueller Freiheit und gegenseitigen Respekts stets gegeben gewesen, nur in jenen diktatorischen Jahren des ›Ausnahmezustandes‹ nicht, den Indira Gandhi von 1975 bis 1977 verhängte, nachdem man sie eines Wahlvergehens für schuldig befunden hatte. Er war auf diese Offenheit stolz gewesen und hatte sich damit vor Leuten im Westen gern gebrüstet. Indien war von unfreien Nachbarn umgeben – Pakistan, China, Burma –, blieb selbst aber eine offene Demokratie, mit Mängeln, gewiss, vielleicht sogar mit schwerwiegenden Mängeln, doch frei.
Seit der begeisterten Rezeption von Mitternachtskinder hatte ihm Indiens Reaktion auf seine Werke stets viel bedeutet, weshalb ihn das Einfuhrverbot seines neuen Buchs besonders schmerzlich traf. Aus diesem Schmerz heraus schrieb er an Premierminister Rajiv Gandhi, Nehrus Enkel, einen offenen Brief, den manche Kommentatoren übertrieben aggressiv fanden. Er beschwerte sich, dass das Buch laut offizieller Erklärung in einer vorbeugenden Maßnahme verboten worden war. »Gewissen Passagen wird nachgesagt, sie könnten für Entstellung und missbräuchliche Auslegung anfällig sein, vermutlich von Seiten skrupelloser Fanatiker religiöser oder sonstiger Natur. Das Verbot wurde erlassen, um einen solchen Missbrauch zu verhindern. Offenbar hält man also mein Buch nicht als solches für blasphemisch oder anstößig, verbietet es aber gleichsam zu seinem eigenen Besten! … Das ist, als hätte man erfahren, ein Unschuldiger könnte Opfer von Straßenräubern oder Vergewaltigern werden, weshalb man diesen Menschen zu seinem Schutz ins Gefängnis sperrt. Und das, Herr Gandhi, ist für eine freie Gesellschaft keine Art, sich zu benehmen.« Das war offenbar aber auch keine Art für Schriftsteller, sich zu benehmen. Man maßregelt keinen Premierminister. Das war … arrogant. Das war frech. Die indische Presse nannte das Verbot ›die Entscheidung von Banausen‹, ein Beispiel versuchter ›Gedankenkontrolle‹, doch solle er besser aufpassen, was er sage.
Das tat er nicht. »Was für ein Indien wollen Sie regieren? Eine offene oder eine repressive Gesellschaft? Ihr Vorgehen in Sachen Die satanischen Verse wird für viele Menschen auf der Welt ein wichtiger Wegweiser sein.« Gewiss war es auch nicht gerade klug, Rajiv Gan dhi vorzuwerfen, dass er eine Familienvendetta austrug. »Vielleicht glauben Sie, indem Sie meinen vierten Roman verbieten, nähmen Sie längst fällige Rache dafür, wie ich Ihre Mutter in meinem zweiten dargestellt habe, doch sind Sie sich sicher, dass man sich an Indira Gandhi besser und länger erinnern wird als an Mitternachtskinder ?« Nun, okay, das klang arrogant. Auch wütend, verletzt, aber die Arroganz lässt sich nicht leugnen. Na schön. War es eben arrogant. Er verteidigte, was er mehr als alles schätzte, die Kunst der Literatur, verteidigte sie gegen einen unverschämten Fall von politischem Opportunismus. Vielleicht war da ein bisschen intellektuelle Arroganz durchaus angebracht. Natürlich war das keine zweckmäßige Verteidigung, kein kalkulierter Versuch, die Ansichten seines Gegners zu ändern. Vielmehr war es der Versuch, die kulturell überlegene Position einzunehmen, und der Brief schloss mit dem rhetorischen Appell an jene Nachwelt, deren Urteil weder er noch Rajiv Gandhi kennen konnten. »Ihnen gehört die Gegenwart, Herr Premierminister, der Kunst aber gehören die Jahrhunderte.«
Der offene Brief erschien am Sonntag, den 9. Oktober 1988. Am nächsten Tag ging in einem der Büros von Viking die erste Todesdrohung ein. Wieder einen Tag später wurde eine Lesung in Cambridge abgesagt, da man auch dafür
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