Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)
Denn darüber kann wohl kein Zweifel bestehen, und soviel ich weiß, stimmen auch Fremdvölker der abweichendsten Denkungsart dem zu, daß dieses Gebiet zu den anregendsten, sinnreichsten und geheimnisvollsten unter den Sparten des Menschenlebens gehört. Wer hätte nicht seine überraschenden und des Nachdenkens werten Erfahrungen im Reiche der Hathor? Habe ich Euch je von meiner ersten Liebe erzählt, die zugleich meine zweite war?«
»Niemals, Hauptmann«, sagte der Hausbetreter. »Die erste auch schon die zweite? Mich wundert, wie das hat vorkommen können.«
»Oder die zweite noch immer die erste«, versetzte der Kommandant. »Wie Ihr wollt. Immer noch oder wiederum oder ewiglich – wer wäre dafür des rechten Wortes sicher? Es kommt auch nicht darauf an.«
Und mit gelassener, ja schläfriger Miene, die Arme verschränkt, wobei er die Briefrolle unter die Achsel schob, den Kopf zur Seite geneigt, die starken Brauen über den braunen Kugel-Augen etwas erhoben, die gerundeten Lippen mäßig und ernsthaft bewegend, begann Mai-Sachme vor Joseph und seinen Wächtern, vor dem Wepwawet-Priester und einer Anzahl herumstehender und näher herzugetretener Soldaten im gleichmäßigsten Tonfall zu erzählen:
»Zwölf Jahre war ich alt und ein Zögling des Unterrichtshauses in der Schreiberschule der königlichen Ställe. Ich war eher klein und beleibt, wie ich’s auch heute bin, und wie es mein Maß und meine Kondition ist für mein Leben vor und nach dem Tode; aber Herz und Geist waren empfänglich. Da sah ich eines Tages ein Mädchen, wie sie einem Mitschüler, ihrem Bruder, um Mittag sein Brot und Bier brachte; denn seine Mutter war krank. Er hieß Imesib, Sohn des Amenmose, eines Beamten. Seine Schwester aber, die ihm seine Ration brachte, drei Brote und zwei Krug Bier, nannte er Beti, woraus ich vermutungsweise schloß, daß sie Nechbet heiße, was sich bestätigte, als ich Imesib danach fragte. Denn es interessierte mich, weil sie selber mich interessierte und ich die Augen nicht von ihr lassen konnte, solange sie da war: von ihren Flechten nicht, noch von ihren schmalen Augen, noch von ihrem bogenförmigen Munde, besonders aber nicht von ihren Armen, die vom Kleide bar und bloß waren und von schlanker Fülle, genau wie es schön ist – sie machten mir den bedeutendsten Eindruck. Aber ich wußte es tagüber noch nicht, welchen Eindruck ich von Beti empfangen, sondern erst nachts erfuhr ich es, als ich im Schlafsaal unter meinen Genossen lag, meine Kleider und Sandalen neben mir und unterm Kopfe zu seiner Erhebung den Sack mit Schreibzeug und Büchern, wie es Vorschrift war. Denn wir sollten die Bücher auch nicht im Traume vergessen, indem sie uns drückten. Ich aber vergaß sie dennoch, und ganz unabhängig wußte sich mein Träumen von ihrem Druck zu machen. Ausführlich und mit größter Wahrhaftigkeit träumte mir nämlich, ich sei mit Nechbet, des Amenmose Tochter, verlobt; unsere Väter und Mütter hätten es miteinander abgesprochen, und sie solle demnächst meine Eheschwester und Hausfrau sein, sodaß ihr Arm auf meinem liegen würde. Dessen freute ich mich über die Maßen, wie ich mich noch nie im Leben gefreut. Die Eingeweide hoben sich mir auf vor Freude ob dieser Abmachung, welche dadurch besiegelt wurde, daß unsere Eltern uns aufforderten, unsere Nasen einander nahe zu bringen, was sehr lieblich war. Es hatte aber dieser Traum eine solche Lebhaftigkeit und Natürlichkeit, daß er in dieser Beziehung der Wirklichkeit überhaupt nicht nachstand und mich merkwürdigerweise noch über die Nacht hinaus, nach dem Wecken und Waschen, über seine Nichtigkeit täuschte. Das ist mir weder vor- noch nachher jemals begegnet, daß ein Traum mich im Bann seiner Lebhaftigkeit hielt nach dem Erwachen noch, und daß ich wachend fortfuhr an ihn zu glauben. Noch einige Morgenstunden lang bildete ich mir fest und selig ein, mit dem Mädchen Beti verlobt zu sein, und nur langsam, da ich im Schreibsaale saß und der Lehrer mich zur Ermunterung auf den Rücken schlug, verlor sich das Glück meiner Eingeweide. Den Übergang zur Ernüchterung bildete der Gedanke, daß die Abmachung und Annäherung unserer Nasen zwar nur ein Traum gewesen sei, daß aber seiner sofortigen Verwirklichung nichts im Wege stünde und ich nur meine Eltern anzugehen brauchte, sich mit Beti’s Eltern unseretwegen ins Einvernehmen zu setzen; denn eine Weile noch war mir nicht anders, als ob nach einem solchen Traume dieses Ansinnen etwas ganz
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