Josepsson, Aevar Örn
schon – Kolbeinsson, nicht wahr?« Er sah Úlfur erfreut an. Der blickte allerdings weniger erfreut drein, denn auch ihm war ein Licht aufgegangen. » Long time no see «, fuhr Guðni fort. »Wann war das noch, warte mal, war es nicht 92?«
»93«, murmelte Úlfur und griff nach seinen Plastiktüten.
»Da hast du wahrscheinlich recht«, pflichtete Guðni ihm nach kurzem Überlegen bei und strich sich über das schlecht rasierte Kinn. »Im Oktober 1993, nicht wahr?« Úlfur ging darauf nicht ein, sondern überquerte den Korridor, stellte seine Tüten wieder ab und fummelte in allen Taschen nach seinem Schlüssel. Guðni blieb ihm auf den Fersen. »Am sechzehnten Oktober 1993«, fuhr er ungerührt fort. »Damals hattest du auf der Hverfisgata fast einen Mann umgebracht. Und dann hast du versucht, mir ein Messer in den Bauch zu jagen, du Arschloch, auf dem Skólavörðustígur. Erinnerst du dich daran?« Er lehnte sich an die Wand und sah Úlfur anklagend an, der nun endlich den Schlüssel gefunden hatte und ihn mit zittrigen Fingern ins Schlüsselloch steckte.
»Ja«, sagte er, als die Tür aufging. »Ich erinnere mich. Und ich erinnere mich auch, dass du mir etliche Rippen gebrochen hast.« Úlfur griff ein weiteres Mal nach den Tüten und betrat seine Wohnung. »Und mir das Handgelenk verstaucht hast.« Bevor er die Tür hinter sich zumachen konnte, hatte Guðni seinen Fuß dazwischengesetzt.
»Was denn, was denn, soweit ich sehen kann, hast du dich prächtig davon erholt. Ist ja auch nicht nötig, ständig in der Vergangenheit herumzuwühlen. Wie lange wohnst du hier schon?«
»Geht dich nichts an«, antwortete Úlfur scharf. »Raus mit dir, du kannst nicht einfach so in meine Wohnung eindringen. Ich kenne meine Rechte.«
»Bla, bla, bla«, brabbelte Guðni freundlich. »Wer drängt sich hier wo rein? Wie lange wohnst du schon hier?«
»Ich hab dir bereits gesagt, dass dich das nichts angeht«, sagte Úlfur.
Guðni verdrehte die Augen. »Hör zu, du Arsch«, sagte er dann, »ich kann das natürlich auch im Volksregister überprüfen lassen. Aber wir beide kommen wesentlich besser dabei weg, wenn du es mir jetzt gleich sagst. Okay?«
»Wieso das denn?«, trotzte Úlfur. »Und wieso willst du das überhaupt wissen?«
Guðni nahm den zerkauten und durchweichten Stummel aus dem Mund, ließ ihn auf den Dielenboden fallen und zertrat ihn effektvoll.
»Weil ich es wissen will«, sagte er, »das sollte dir genügen. Wenn du möchtest, können wir uns aber auch auf dem Revier unterhalten.« Er drückte seine Wampe gegen Úlfurs mageren Bauch und starrte ihn drohend an. »Oder in der Ambulanz. Du bist ja berüchtigt dafür, Widerstand gegen die Staatsgewalt zu leisten, erinnerst du dich?«
»98«, winselte Úlfur und wich weiter zurück. »Wir sind 98 hier eingezogen.«
Guðni hob die Brauen. »Wir? Du und wer?«
»Tinna und ich. Meine Frau.« Jetzt war bei Úlfur die Luft heraus, und er ließ sich auf einen Küchenhocker fallen. Guðni setzte sich ihm gegenüber und zog einen neuen Stumpen aus seiner Brusttasche.
»Tinna«, wiederholte er nachdenklich. »Tinna. Der Name kommt mir bekannt vor. Moment mal, war sie nicht …« Er sah Úlfur ungläubig an. »Hieß sie nicht Tinna, die Frau von dem da, wie auch immer er hieß, den du damals beinahe abgemurkst hast? Sag mir bloß nicht, dass es sich um dieselbe verdammte Tinna handelt!«
Úlfur nickte. »Doch. Wieso glaubst du eigentlich, dass ich zugestochen habe?«, fragte er im Gegenzug, jetzt ein wenig forscher. Schon vierzig Jahre bei der Polizei, dachte Guðni kopfschüttelnd, und trotzdem hielt das Leben immer noch Überraschungen für einen bereit. Es fiel ihm aber nicht schwer, das zu kaschieren.
»Ich weiß genau, weshalb du zugestochen hast, amigo«, sagte er, »es ging nicht um Tinna.« Úlfur setzte zu einem Protest an, doch Guðni bedeutete ihm zu schweigen. »Ólafur Áki Bárðarson, der Typ, der hier gegenüber wohnt, kennst du ihn?«
»Natürlich kenne ich ihn. Nicht besonders gut, aber ich kenne ihn. Komischer Kerl.«
»Und tot«, sagte Guðni ungewöhnlich sanft. »Wann hast du ihn zuletzt getroffen?«
Úlfur zuckte zusammen und rutschte unruhig auf seinem Hocker hin und her. »Ey, glotz mich nicht so an, ich habe den Kerl schon eine Ewigkeit nicht mehr getroffen. Und es ist auch schon Monate her, seit ich ihn überhaupt nur von weitem gesehen habe. Was meinst du denn, wieso denn tot?«
»Mausetot. Was glaubst du, wann du ihn zuletzt
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