Josepsson, Aevar Örn
gesehen hast?«
Úlfur kratzte sich am Kopf. »Mann, daran erinner ich mich nicht. Es ist wirklich lange her, irgendwann im vorigen Jahr.«
»Könntest du dich vielleicht etwas präziser ausdrücken?«, fragte Guðni, immer noch unangenehm sanft. Úlfur zappelte weiter auf seinem Hocker herum.
»Mann, wie soll man sich denn an so was erinnern? Es ist so lange her, dass ich einfach … Oder nein, warte – es war zu Ostern. Voriges Jahr zu Ostern, meine ich. Ich hab damals bei ihm angeklopft und mich ein bisschen mit dem Kerl unterhalten.«
»Über was?«
Úlfur verdrehte die Augen. »Das weiß ich nicht mehr. Bestimmt Gott.«
»Gott?«, echote Guðni verblüfft.
»Ja, der hat eigentlich kaum über was anderes geredet. Jedenfalls nicht mit mir. Der Kerl war bekehrt, und zwar echt schlimm.«
»Und du warst da in seiner Wohnung und hast mit ihm über Gott gesprochen?«
»Ja, nein, eigentlich habe ich nur mit einem Ohr hingehört, du weißt schon.« Er sah Guðni entschuldigend an. »Ich hatte keinen Schnaps mehr im Haus, und der Alte hat immer Fusel vorrätig gehabt. Ich hab mir eine halbe Flasche bei ihm geborgt und musste deswegen seinen salbungsvollen Schwulst über mich ergehen lassen. Das war so was wie, wie soll man das sagen, das war die Routine, verstehst du. Wenn ich Schnaps brauchte, habe ich manchmal bei Óli angeklopft, ihn ein bisschen was über den Herrn schwafeln lassen und bin dann mit dem Schnaps abgezogen. Er hat mir immer ausgeholfen, und ich habe im Gegenzug immer zugehört, so ’n bisschen, verstehst du. Man weiß ja schließlich, was sich gehört.« Úlfur versuchte es mit einem schwachen Grinsen, er fand sich selber witzig. Guðni grinste nicht.
»Habt da nur ihr beide gottesfürchtig geplaudert, oder war die Dame des Hauses auch daran beteiligt?«, fragte er scharf.
»Äh, hm, ja, nein, ich war allein. Tinna war nicht zu Hause.«
»Sondern wo?«
»In einem Wochenendhaus auf dem Land.«
»Oha, nicht nur eine Tussi, sondern auch ein Ferienhaus. Sag bloß noch, dass du auch Kinder hast?«
»Zwei«, entgegnete Úlfur angriffslustig.
»Zwei Sommerhäuser?«
»Kinder.« Jetzt war es Úlfur, der Guðni nicht witzig fand. »Zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Aber kein Ferienhaus. Das hatten wir nur über Ostern gemietet.«
»Und trotzdem warst du hier?«
»Ja, ich … Wir – ach, das spielt doch keine Rolle«, sagte Úlfur mürrisch. »Das geht dich nichts an.«
Ein Grinsen umspielte Guðnis Lippen. »Da ist anscheinend einiges, was mich nichts angeht«, sagte er. »Okay, lassen wir das. Du warst hier, sie war dort. Ich versteh sie übrigens gut. Aber was dann? Willst du mir etwa weismachen, dass du seit voriges Jahr Ostern keinen Bedarf für Schnaps mehr gehabt hast?«
Úlfur hob resignierend die Hände. »Klar, Mann, was glaubst du denn. Ich hab oft genug bei ihm angeklopft, aber er ist nie zur Tür gekommen, kapiert?«
»Nein«, sagte Guðni, »ich kapiere nicht. Du hast ihn mehr als ein Jahr lang nicht gesehen, du hast häufig bei ihm angeklopft und du hast da nichts unternommen?«
Úlfur sah seinen Peiniger verständnislos an. »Was denn?«
Guðni holte tief Luft und bekam einen Hustenanfall.
»Ich unterhalte mich heute Abend eingehender mit dir«, sagte er dann, »oder irgendwann am Wochenende.« Er räusperte sich, stand auf und beugte sich über den Küchentisch. »Und lass dir bloß nicht einfallen, auch nur einen Schritt aus dem Haus zu gehen, bevor ich es dir gestatte. Capito?«
»Kapi… was?«, fragte Úlfur.
»Kapiert?«, sagte Guðni und zog ab, ohne eine Antwort abzuwarten. Das wollte erst mal verdaut werden. Úlfur Kolbeinsson und Tinna Dagsdóttir. Er konnte sich gut an den Fall erinnern. Zuerst hatten sich kurz vor Mitternacht die Leute unten im Haus wegen zu lauter Musik und noch lauteren Streitereien in der Dachwohnung beschwert. Der Anruf war registriert und an die diensthabenden Bereitschaftspolizisten im Innenstadtbereich weitergeleitet worden, war aber nicht als besonders prioritär eingestuft worden. An diesem Freitagabend war nämlich im Stadtzentrum genug los gewesen. Gegen halb zwei rief dann aber eine Frau in Panik bei der Ambulanz an und verlangte einen Krankenwagen, und zwar an dieselbe Adresse auf der Hverfisgata. Die Sanitäter verständigten die Polizei, und Guðni hatte an diesem Wochenende Bereitschaftsdienst gehabt. Tinna war in der Wohnung und völlig außer sich, als er dort eintraf, ob aus Panik oder weil sie betrunken war
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