Joyland
neben ihm zusammengerollt, und Mike streichelte ihn geistesabwesend. Es war kaum zu glauben, dass dieser Junge vor Kurzem noch ganz oben auf dem Carolina Spin mit triumphierend erhobenen Armen gerufen hatte, er könne fliegen. Er machte allerdings keinen traurigen Eindruck. Seine Augen leuchteten.
»Haben Sie sie gesehen, Dev? Haben Sie sie gesehen, als sie fortgegangen ist?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte. Auf Tom war ich neidisch gewesen, auf Mike war ich es jedoch nicht. Wie auch?
»Ich wollte, mein Opa wäre dabei gewesen. Er hätte sie gesehen und gehört, was sie gesagt hat, als sie fortgegangen ist.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Danke. Sie hat uns beide gemeint. Und sie hat gesagt, Sie sollen vorsichtig sein. Haben Sie sie echt nicht gehört? Nicht mal ganz leise?«
Ich schüttelte den Kopf. Nicht mal ganz leise.
»Aber Sie wissen Bescheid.« Mit dem blassen Gesicht wirkte er überaus erschöpft – das Gesicht eines Jungen, der sehr krank war –, aber seine Augen waren voller Leben. »Sie wissen Bescheid, oder?«
»Ja.« Dabei musste ich an den Haarreif denken. »Mike, weißt du, was mit ihr passiert ist?«
»Jemand hat sie umgebracht«, flüsterte er.
»Aber sie hat dir nicht verraten …«
Ich musste den Satz nicht beenden. Er schüttelte bereits den Kopf.
»Du solltest jetzt schlafen«, sagte ich.
»Stimmt. Hinterher geht's mir immer etwas besser.« Er schloss die Augen und öffnete sie dann langsam wieder. »Das Riesenrad war am besten. Der Schlepper. Das ist wie fliegen.«
»Ja«, sagte ich. »Ja, das ist es.«
»Als wär man selbst ein Drachen.« Er machte die Augen zu, und dieses Mal öffnete er sie nicht wieder. Ich ging so leise wie möglich zur Tür. Als ich die Hand auf die Klinke legte, sagte er: »Passen Sie gut auf, Dev. Es ist nicht weiß.«
Ich wandte mich um. Er schlief. Da bin ich mir ganz sicher. Nur Milo erwiderte meinen Blick. Ich ging hinaus und schloss leise die Tür hinter mir.
*
Annie befand sich in der Küche. »Ich mache gerade Kaffee, aber vielleicht möchtest du lieber ein Bier? Ich hätte Blue Ribbon da.«
»Kaffee ist völlig in Ordnung.«
»Wie gefällt dir das Haus?«
Ich beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. »Die Einrichtung ist für meinen Geschmack etwas altmodisch, aber ich bin auch auf keine Designschule gegangen.«
»Ich auch nicht«, sagte sie. »Ich hab nicht mal einen Collegeabschluss.«
»Willkommen im Club.«
»Ach, das holst du schon noch nach. Wenn du erst mal über das Mädchen hinweg bist, das dich hat sitzen lassen, gehst du zurück auf die Schule, machst deinen Abschluss und hast eine großartige Zukunft vor dir.«
»Woher weißt du …«
»Das mit dem Mädchen? Du könntest genauso gut ein großes Schild vor dir hertragen. Außerdem weiß Mike davon. Er hat es mir erzählt. Er war meine großartige Zukunft. Es gab einmal eine Zeit, da wollte ich Anthropologie studieren. Eine Goldmedaille bei der Olympiade gewinnen und fremde, wunderbare Länder besuchen. Die Margaret Mead meiner Generation wollte ich werden, Bücher schreiben und mein Bestes tun, um mir die Liebe meines Vaters zu verdienen. Weißt du, wer er ist?«
»Meine Vermieterin sagt, er wäre ein Prediger.«
»Das ist er in der Tat. Buddy Ross, der Mann im weißen Anzug. Er hat auch einen eindrucksvollen weißen Haarschopf. Wie eine ältere Ausgabe von dem Typen, der im Fernsehen gerade Werbung für Haushaltsfolie macht. Und eine Riesenkirche. Ist überall im Radio zu hören. Und jetzt auch im Fernsehen zu sehen. Abseits seiner Bühne ist er allerdings ein Arschloch mit nur wenigen guten Eigenschaften.« Sie schenkte zwei Tassen Kaffee ein. »Aber das trifft wohl auf uns alle zu. Finde ich jedenfalls.«
»Du klingst, als hättest du etwas zu bereuen.« Das war nicht unbedingt eine besonders höfliche Bemerkung, doch über dergleichen waren wir hinweg. Hoffte ich wenigstens.
Sie brachte den Kaffee und setzte sich mir gegenüber. »Wie es in dem Lied so schön heißt – ich habe so manches zu bereuen. Aber Mike ist ein toller Junge, und eins muss ich meinem Vater lassen: Er hat uns finanziell abgesichert, sodass ich mich ausschließlich um Mike kümmern kann. Wenn du mich fragst, dann ist ein gezücktes Scheckbuch besser als gar kein Liebesbeweis. Ich habe heute eine Entscheidung gefällt. Ich glaube, das war, als du das alberne Kostüm anhattest und diesen albernen Tanz aufgeführt hast. Während ich zugesehen habe, wie Mike gelacht
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