Joyland
einem Vorhängeschloss eben machte. Aber das ist alles müßig, wenn man die eigentliche Frage bedenkt, eine, die Fred nicht einmal ansatzweise beantworten konnte: Da im Horror House bereits alle Sicherungen rausgedreht worden waren – wie konnte die Gondel da überhaupt losfahren? Und was das betrifft, was als Nächstes passierte …
Eine Fahrt mit der Geisterbahn endete jedes Mal gleich. Nach der Folterkammer, wenn die Besucher glaubten, sie hätten alles überstanden, kam ein schreiendes Skelett angeflogen (das von den Grünschnäbeln den Spitznamen Hägar der Schreckliche verpasst bekommen hatte), und zwar direkt auf die Gondel zu. Sobald es zur Seite hin auswich, wurde direkt vor dem Zug eine Mauer sichtbar. In grüner Leuchtfarbe war darauf ein verwesender Zombie gemalt und ein Grabstein mit den Buchstaben ENDSTATION. Natürlich teilte sich die Mauer im letzten Moment, aber dieser abschließende Doppelschlag war äußerst wirkungsvoll. Während der Zug ins Tageslicht hinausfuhr, einen Halbkreis beschrieb und hinter einer weiteren Doppeltür zum Stehen kam, schrien sogar erwachsene Männer wie am Spieß. Dieses abschließende Kreischen (das stets von lautem Gelächter begleitet wurde) war die beste Reklame für das Horror House.
An jenem Tag ertönten keine Schreie. Wie denn auch: Als die Doppeltür aufkrachte, kam eine leere Gondel zum Vorschein. Sie rollte den Halbkreis entlang, stieß sanft gegen die nächste Doppeltür und blieb dort stehen.
» O - kay «, flüsterte Mike, und zwar so leise, dass ich es kaum hörte. Annie bekam es ganz bestimmt nicht mit, weil ihre Aufmerksamkeit in dem Moment auf die Gondel gerichtet war. Der Junge lächelte.
»Wie ist denn so was möglich?«, sagte Annie.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Vielleicht ein Kurzschluss. Oder ein plötzlicher Stromstoß.« Beide Erklärungen klangen gut, solange man nicht wusste, dass die Sicherungen rausgedreht waren.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte in die Gondel. Als Erstes fiel mir auf, dass der Sicherheitsbügel oben war. Falls Eddie Parks oder einer seiner Helfershelfer ihn runterzudrücken vergaß, sollte er sich eigentlich automatisch senken, sobald der Zug sich in Bewegung setzte – das war vom Gesetzgeber so vorgeschrieben. Dass der Bügel bei dieser Gondel oben war, passte allerdings zu allem anderen; schließlich waren die einzigen Fahrgeschäfte, die an diesem Vormittag mit Strom versorgt wurden, diejenigen, die Lane und Fred für Mike in Betrieb genommen hatten.
Unter dem halbrunden Sitz entdeckte ich etwas – etwas, was so echt war wie die Rosen, die Fred Annie überreicht hatte, nur eben nicht rot.
Es war ein blauer Haarreif.
*
Wir machten uns auf den Weg zurück zum Wagen. Milo zeigte sich wieder von seiner besten Seite und tapste neben Mikes Rollstuhl her.
»Ich komme zurück, sobald ich die beiden nach Hause gefahren habe«, sagte ich zu Fred. »Und mache ein paar Überstunden.«
Er schüttelte den Kopf. »Für heute haben Sie Feierabend. Gehen Sie früh ins Bett, und seien Sie morgen um sechs hier. Und richten Sie sich ein paar belegte Brote als Reserve, das wird morgen ein langer Arbeitstag. Sieht so aus, als würde das Unwetter etwas schneller aufziehen, als die Meteorologen erwartet haben.«
Annie sah ihn beunruhigt an. »Was meinen Sie – soll ich ein paar Sachen zusammenpacken und mit Mike in die Stadt fahren? Das mach ich nur ungern, wenn er so erschöpft ist, aber…«
»Schalten Sie heute Abend das Radio an«, riet Fred ihr. »Falls die Wetterbehörde für das Küstengebiet eine Evakuierungsempfehlung ausspricht, bleibt Ihnen noch genug Zeit. Aber ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Uns steht kein allzu heftiger Sturm bevor. Ich mache mir nur Sorgen um die größeren Anlagen – den Thunderball, den Shaker und das Spin. «
»Die sind dem schon gewachsen«, sagte Lane. »Letztes Jahr haben sie Agnes standgehalten, und das war ein echter Orkan.«
»Hat der jetzige Sturm auch einen Namen?«, fragte Mike.
»Der wurde Gilda getauft«, sagte Lane. »Aber es ist kein Orkan, nur ein subtropisches Tiefdruckgebiet.«
»Der Wind soll etwa um Mitternacht stärker werden, und zwei Stunden später soll's zu regnen anfangen. Was die großen Anlagen betrifft, hat Lane wahrscheinlich recht, aber es wird trotzdem ein arbeitsreicher Tag. Haben Sie eine Öljacke, Dev?«
»Ja.«
»Dann ziehen Sie die am besten auch an.«
*
Der Wetterbericht, den wir auf WKLM hörten, während wir den Park
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