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Joyland

Titel: Joyland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hinter uns ließen, beruhigte Annie etwas. Gilda sollte es nicht auf mehr als fünfzig Stundenkilometer bringen, von stärkeren Böen hin und wieder abgesehen. Vor geringfügiger Stranderosion und kleineren Überschwemmungen landeinwärts wurde gewarnt, aber mehr auch nicht. Der Radiomoderator sprach von »tollem Wetter zum Drachensteigenlassen«, worüber wir alle lachen mussten. Wir hatten bereits etwas gemeinsam, und das war schön.
    Als wir die große viktorianische Villa am Beach Row erreichten, war Mike fast eingeschlafen. Ich hob ihn in den Rollstuhl, was nicht weiter anstrengend war – ich war in den letzten vier Monaten etwas muskulöser geworden, und ohne seine Stahlschienen wog er bestimmt nicht mehr als fünfunddreißig Kilo. Milo tapste wieder einmal neben dem Rollstuhl einher, als ich ihn die Rampe hinauf ins Haus schob.
    Mike musste auf die Toilette, aber als seine Mutter den Rollstuhl übernehmen wollte, fragte Mike, ob ich das nicht stattdessen machen könne. Ich rollte ihn ins Badezimmer, half ihm aufzustehen und schob seine Stretchhosen nach unten, während er die Haltegriffe umklammerte.
    »Ich find's furchtbar, wenn Mama das macht. Dann komm ich mir immer vor wie ein Baby.«
    Gut möglich, aber er pinkelte mit der Kraft eines gesunden Jungen. Als er sich zum Spülen vorbeugte, verlor er jedoch das Gleichgewicht und wäre fast kopfüber in der Toilette gelandet. Ich musste ihn auffangen.
    »Danke, Dev. Ich hab mir die Haare heute schon mal gewaschen.« Darüber musste ich lachen, und Mike grinste. »Ich fänd's gut, wenn wirklich ein Orkan aufzieht. Das wär hammermäßig!«
    »Pass auf, was du dir wünschst.« Ich musste an den Hurrikan Doria von vor zwei Jahren denken. Damals war es in New Hampshire und Maine zu Windstärken von hundertfünfzig Stundenkilometern gekommen, und der Wirbelsturm hatte überall in Portsmouth, Kittery, Sanford und den Berwicks Bäume umgerissen. Eine große alte Tanne hatte unser Haus nur knapp verfehlt, unser Keller hatte unter Wasser gestanden, und vier Tage lang war der Strom ausgefallen gewesen.
    »Ich will auf keinen Fall, dass im Park etwas einstürzt. Das ist wirklich der tollste Ort auf der ganzen Welt. Jedenfalls der tollste, den ich je besucht hab.«
    »Gut. Halt dich fest, ich zieh dir die Hosen wieder hoch. Deine Mutter will nicht schon wieder deinen nackten Hintern sehn!«
    Darüber musste er abermals lachen, nur dass das Lachen in ein Husten überging. Annie übernahm, als wir rauskamen, und rollte ihn den Flur entlang zum Schlafzimmer. »Dass du dich ja nicht davonstiehlst, Devin«, sagte sie über die Schulter hinweg.
    Da ich den Nachmittag freihatte, hatte ich keineswegs die Absicht, mich davonzustehlen, schon gar nicht, wenn sie wollte, dass ich noch etwas blieb. Ich schlenderte durchs Wohnzimmer und betrachtete lauter Dinge, die wahrscheinlich teuer waren, aber nicht besonders interessant – jedenfalls nicht für einen Einundzwanzigjährigen. Ein großes Panoramafenster, das fast von einer Wand zur anderen reichte, erfüllte den Raum mit Licht und bewahrte ihn davor, ein düsterer Saal zu sein. Das Fenster ging auf die rückwärtige Veranda hinaus, auf den Plankenweg und das Meer. Im Südosten bildeten sich die ersten Wolken, aber hier war der Himmel noch immer strahlend blau. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass ich es doch geschafft hatte, das große Haus zu betreten, auch wenn ich wahrscheinlich nie die Gelegenheit haben würde, sämtliche Badezimmer zu zählen. Außerdem grübelte ich über den Haarreif nach und fragte mich, ob Lane ihn entdecken würde, wenn er die eigensinnige Gondel an ihren Platz zurückschob. Wahrscheinlich hatte ich doch noch ein Gespenst gesehen. Nur nicht das Gespenst eines Menschen.
    Annie kam zurück. »Er hat nach dir gefragt, aber bleib nicht zu lange.«
    »Okay.«
    »Das dritte Zimmer rechts.«
    Ich ging den Flur entlang, klopfte leise und trat ein. Wenn man die Haltegriffe, die Sauerstoffflasche und die Beinschienen ignorierte, die in stählerner Habtachtstellung neben dem Bett lehnten, war es ein Jungenzimmer wie jedes andere. Es gab zwar weder einen Baseballhandschuh noch ein Skateboard, aber an der Wand hingen Poster von Mark Spitz und von Larry Csonka, einem Footballspieler der Miami Dolphins. Auf dem Ehrenplatz über dem Bett überquerten die Beatles die Abbey Road.
    Es roch schwach nach Kampfer. In seinem Bett sah Mike sehr klein aus – unter der grünen Decke wirkte er geradezu verloren. Milo hatte sich

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