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Joyland

Titel: Joyland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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bedeutete ihm zu schweigen. Ich hatte erwartet, mit einer Liste von Geboten konfrontiert zu werden, die mit Du sollst nicht … begannen. Stattdessen hörte ich etwas, was ungeschliffener Poesie sehr nahekam, und ich war begeistert. Bradley Easterbrook musterte uns lange, und plötzlich entblößte er seine Pferdezähne und grinste, als wollte er die ganze Welt verschlingen. Erin Cook starrte ihn wie gebannt an. Die meisten anderen Neuankömmlinge ebenso. Wie Schüler eben Lehrer anstarrten, die ihnen eine neue und möglicherweise wundervolle Art und Weise zeigten, die Wirklichkeit zu sehen.
    »Ich hoffe, dass es Ihnen Spaß macht, hier zu arbeiten, und wenn nicht – wenn Sie zum Beispiel an der Reihe sind, das Fell zu tragen –, dann denken Sie daran, wie privilegiert Sie sind. In einer traurigen und finsteren Welt sind wir eine kleine Insel des Frohsinns. Viele von Ihnen haben bereits Pläne fürs Leben geschmiedet. Sie wollen Arzt werden, Rechtsanwalt, vielleicht sogar Politiker …«
    »Gütiger Himmel, nein!«, schrie jemand, was allgemeines Gelächter nach sich zog.
    Ich hätte eigentlich gedacht, dass Easterbrook nicht noch breiter hätte grinsen können, aber das tat er. Tom schüttelte den Kopf, doch auch er hatte aufgegeben. »Okay, jetzt kapier ich's«, flüsterte er mir ins Ohr. »Der Kerl ist der Spaßmessias.«
    »Sie haben ein interessantes, erfolgreiches Leben vor sich, meine jungen Freunde. Sie werden viele tolle Dinge tun und viele außergewöhnliche Erfahrungen machen. Aber ich hoffe, dass Sie auf Ihre Zeit in Joyland immer als etwas Besonderes zurückblicken werden. Wir verkaufen keine Möbel. Wir verkaufen keine Autos. Wir verkaufen kein Land, keine Häuser, keine Rentenfonds. Wir haben kein politisches Programm. Wir verkaufen Spaß. Vergessen Sie das nie. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Auf ins Gefecht!«
    Er trat vom Rednerpult zurück, verbeugte sich noch einmal und verließ die Bühne mit denselben behutsamen, stelzfüßigen Schritten, mit denen er sie betreten hatte. Das war eine der besten Reden, die ich je gehört habe, denn Easterbrook hatte die Wahrheit gesprochen und uns keinen Unfug erzählt. Ich mein ja nur: Wie viele Tölpel können in ihren Lebenslauf 1973 habe ich drei Monate lang Spaß verkauft schreiben?
    *
    Die Teamleiter waren alles Leute, die schon seit Jahren in Joyland arbeiteten und außerhalb der Saison als Schausteller durch die Provinz tingelten. Die meisten gehörten auch dem Park Services Committee an, was bedeutete, dass sie sich um die Einhaltung der Verordnungen von Bund und Ländern kümmern mussten (die 1973 noch sehr locker waren) und um die Beschwerden der Besucher. In jenem Sommer drehten sich die meisten Beschwerden um das neue Rauchverbot.
    Unser Teamleiter war ein forscher kleiner Kerl namens Gary Allen; er war Anfang siebzig und für die Annie Oakley Shootin' Gallery zuständig. Allerdings nannte die nach dem ersten Tag keiner mehr so. Im Jargon hieß der Schießstand »Knallbude«, und Gary war der Knallbudenhengst. Die sieben Mitglieder vom Team Beagle marschierten zu seinem Stand, wo er gerade die an Ketten befestigten Gewehre auslegte. Mein erster offizieller Joyland-Job bestand darin, zusammen mit Erin, Tom und den anderen vier Jungs im Team die Gewinne in die Regale zu räumen. Die großen Stofftiere, die kaum jemand gewann, bekamen einen Ehrenplatz … allerdings erzählte uns Gary, dass er darauf achtete, jeden Abend, wenn die Mündungen heiß liefen, mindestens eines rauszurücken.
    »Ich mag die Gimpel«, sagte er. »Wirklich. Und die Gimpel, die mir am besten gefallen, sind die Bräute, und damit mein ich die hübschen Mädels, und die Bräute, die mir am besten gefallen, sind die mit den tief ausgeschnittenen Oberteilen, wenn sie sich vorbeugen und schießen. Ich zeig's euch.« Er schnappte sich eine .22er, die für Rundkugeln umgerüstet worden war (und außerdem so, dass sie jedes Mal, wenn man abdrückte, ordentlich laut knallte), und beugte sich vor.
    »Wenn einer der Kerle das macht, dann erklär ich ihm, dass er die Linie übertritt. Den Bräuten? Niemals.«
    Ronnie Houston, ein ängstlich dreinblickender junger Mann mit Brille und einer Baseballkappe von der Florida State University auf dem Kopf, sagte: »Ich sehe keine Linie, Mr. Allen.«
    Gary betrachtete ihn lange und stemmte die Fäuste in die nicht vorhandenen Hüften. Seine Jeans schienen der Schwerkraft zu trotzen. »Pass mal auf, mein Sohn – drei Dinge musst du dir

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