Joyland
»Geschichte ist die kollektive Kacke unserer Vorfahren, der ganzen Menschheit – ein riesiger Scheißehaufen, der mit jedem Tag größer wird. Im Moment stehen wir noch obendrauf, aber ziemlich bald werden wir unter dem Dünnpfiff nachfolgender Generationen begraben. Deshalb sehen die Klamotten eurer Eltern auf alten Fotografien auch so komisch aus, um nur ein Beispiel zu nennen. Denkt daran – auch ihr werdet bald unter der Scheiße eurer Kinder und Enkel begraben sein. Da ist ein kleines bisschen Nachsicht angebracht.«
Tom öffnete den Mund, wahrscheinlich um etwas Kluges zu erwidern, überlegte es sich dann aber wohlweislich anders.
George Preston, ein weiterer Mitstreiter vom Team Beagle, meldete sich zu Wort. »Sind Sie denn ein Schausteller von altem Schrot und Korn?«
»I wo! Mein Vater war Viehzüchter in Oregon, und jetzt kümmern sich meine Brüder um die Farm. Ich bin das schwarze Schaf der Familie und verdammt stolz darauf. Okay, wenn sonst nichts ansteht, können wir ja mit diesen Albernheiten aufhören und uns an die Arbeit machen.«
»Darf ich noch was fragen?«, sagte Erin.
»Nur weil du so ein hübsches Ding bist.«
»Was heißt ›das Fell tragen‹?«
Paps Allen lächelte und stützte die Hände auf die Theke seiner Knallbude. »Verrat mir eins, mein Kind – hast du irgendeine Ahnung, was es heißen könnte?«
»Na ja … schon.«
Das Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, bis unser neuer Teamleiter sämtliche gelbliche Eckzähne entblößt hatte. »Dann hast du damit wahrscheinlich recht.«
*
Was ich in Joyland in jenem Sommer getan habe? Schlicht und ergreifend alles. Ich hab Eintrittskarten verkauft. Eine Popcornkarre vor mir hergeschoben. Strauben, Zuckerwatte und zigtausend Hotdogs verkauft (die bei uns Hound Dogs hießen – aber das kann man sich ja denken). Einem Hound Dog habe ich es auch zu verdanken, dass mein Bild in die Zeitung kam, obwohl ich bewussten unglücklichen Welpen gar nicht selbst verkauft habe; das war George Preston gewesen. Ich hab als Bademeister gearbeitet, am Strand wie auch im Happy Lake, dem Hallenbad, in dem die Splash-and-Crash- Wasserrutschbahn endete. Zusammen mit den anderen Angehörigen vom Team Beagle hab ich bei Linedance-Nummern mitgetanzt, zu »Bird Dance Beat«, »Does Your Chewing Gum Lose Its Flavor on the Bedpost Overnight«, »Rippy-Rappy, Zippy-Zappy« und einem Dutzend anderen albernen Songs, und zwar im Wiggle-Waggle Village, wo ich auch immer wieder als nicht ausgebildeter Betreuer auf die Kinder aufgepasst habe, was mir erstaunlicherweise Spaß gemacht hat. Wenn wir im Kinderdorf mit plärrenden Gören konfrontiert waren, lautete der offizielle Schlachtruf: »Traurige Augen tun nix taugen!«, und mir gefiel das nicht nur, ich wurde sogar richtig gut darin. Damals kam ich auf den Gedanken, es könnte sogar eine tolle Idee sein, irgendwann selbst Kinder zu haben, und nicht nur ein Tagtraum, in dem Wendy eine Rolle spielte.
Ich – und all die anderen Happy Helper – lernten, in null Komma nichts von einem Ende von Joyland zum anderen zu rasen, entweder indem wir den Gassen hinter den Buden folgten oder einem der drei Verbindungstunnel, die als Joyland Under, Hound Dog Under und Boulevard bekannt waren. Ich habe tonnenweise Abfall befördert, meistens mit einem Elektrowägelchen auf dem Boulevard, einem finsteren, unheimlichen Gewölbe, das von uralten Neonröhren erleuchtet wurde, die fortwährend flackerten und summten. Ein paarmal hab ich sogar als Roadie gearbeitet und Verstärker und Monitorboxen geschleppt, wenn einer der Sänger oder eine der Bands verspätet und ohne Hilfskräfte auftauchte.
Und ich lernte den Jargon. Manches davon – wie zum Beispiel »Freischuss« für eine kostenlose Vorstellung oder »kaputte Schleuder« für ein Karussell oder eine Achterbahn, die den Geist aufgegeben hatte – wurde schon seit Urzeiten auf Jahrmärkten verwendet. Andere Begriffe – wie zum Beispiel »Bräute« für hübsche Mädchen und »Heinz« für Leute, denen man nichts recht machen konnte – waren reines Joyland-Kauderwelsch. Vermutlich hat jeder Park seine eigene Version des Jargons, aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass unter dem neuen Lack überall die Schaustellerei zum Vorschein kommt. Ein Klemmkautz ist ein Störenfried (in der Regel ein Heinz), der sich darüber beschwert, dass er anstehen muss. Die letzte Stunde eines Tages (in Joyland war das von 22 bis 23 Uhr), hieß Geisterstunde. Ein Störenfried,
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