Joyland
alten Freundes und der Trauer einer alten Freundin nicht vergleichen, aber es folgte dem gleichen Muster. Ganz genau sogar. Und wenn es mir so vorkam wie das Ende der Welt – angefangen mit den Selbstmordgedanken (so albern und halbherzig sie auch gewesen sein mochten) und dann einer grundlegenden Veränderung meines Weltbildes –, so muss man sich vor Augen halten, dass ich keinen Maßstab hatte, an dem ich meine Gefühle hätte messen können. Das nennt man jung sein.
*
Im weiteren Verlauf des Junis wurde mir allmählich klar, dass meine Beziehung mit Wendy so krank wie William Blakes Rose war. Wobei ich mich allerdings weigerte, sie für todkrank zu halten, obwohl die Anzeichen dafür immer deutlicher wurden.
Die Post zum Beispiel. Während meiner ersten Woche bei Mrs. Shoplaw schrieb ich Wendy vier lange Briefe, und das, obwohl ich in Joyland schuftete, bis ich auf dem Zahnfleisch ging, und mich jeden Abend mit einem Kopf voller neuer Informationen und Erfahrungen in mein Zimmer im ersten Stock schleppte und mich wie ein Collegestudent fühlte, der mitten im Semester in eine neue, äußerst anstrengende Vorlesung gestolpert war (sagen wir: »Spaßphysik für Doktoranden«). Als Antwort erhielt ich genau eine Postkarte mit dem Boston Common vorn drauf und einer äußerst merkwürdigen, gemeinschaftlich verfassten Botschaft auf der Rückseite. Oben stand, in einer Handschrift, die ich nicht kannte: Wenny schreibt die Karte, während Rennie am Steuer sitzt! Darunter, in einer Handschrift, die mir nur zu vertraut war: Juhu! Zwei süße Verkäuferinnen unternehmen einen Ausflug nach Cape Cod! Alles Party! Zappa dong! Keine Angst, ich hab den Lenker gehalten, während Ren ihre Message geschrieben hat. Hoffentlich gehts dir gut. W.
Zappa dong? Hoffentlich geht's dir gut? Kein »Ich liebe dich«, kein »Ich vermisse dich«, nur Hoffentlich geht's dir gut? Und obwohl die Karte, dem Gekrakel und den Tintenklecksen nach, während der Fahrt in Renees Wagen (Wendy hatte keinen) geschrieben worden war, klangen sie beide völlig bekifft oder sturzbetrunken. In der darauffolgenden Woche schickte ich vier weitere Briefe plus ein Foto, das Erin von mir im Fell geschossen hatte. Keine Antwort von Wendy.
Man fängt an, sich Sorgen zu machen, dann dämmert es einem allmählich, und irgendwann begreift man. Vielleicht wehrt man sich anfänglich dagegen, vielleicht glaubt man, dass nicht nur Ärzte, sondern auch Liebende die ganze Zeit falsche Diagnosen stellen, aber tief im Herzen ist einem alles klar.
Zweimal habe ich versucht, sie anzurufen. Beide Male nahm dasselbe mürrische Mädchen ab. In meiner Vorstellung trug sie eine Hornbrille und ein knöchellanges Omakleid und war ungeschminkt. Nein, sagte sie beim ersten Mal. Die ist mit Ren unterwegs. Beim zweiten Mal sagte das mürrische Mädchen: Die ist nicht da und kommt auch so schnell nicht mehr wieder. Ist ausgezogen.
»Ausgezogen wohin?«, fragte ich beunruhigt. Ich befand mich in der Diele von Maison Shoplaw, wo neben dem Telefon ein Blatt Papier lag, auf das jeder – auf freiwilliger Basis – seine Ferngespräche eintrug. Ich hielt den schweren, altmodischen Hörer so fest umklammert, dass meine Finger ganz taub geworden waren. Wendy finanzierte ihr Studium mit einem äußerst fragilen Flickwerk aus Stipendien, Studienkredit und Nebenjobs, genauso wie ich. Eine eigene Wohnung konnte sie sich nicht leisten. Jedenfalls nicht ohne Unterstützung.
»Keine Ahnung, und es ist mir auch egal«, sagte das mürrische Mädchen. »Irgendwann hatte ich die Sauferei und die Gackerpartys bis um zwei Uhr nachts satt. Manche Leute brauchen hin und wieder etwas Schlaf. Seltsam, aber wahr.«
Ich hatte so heftiges Herzklopfen, dass ich es an den Schläfen spürte. »Ist Renee mit ihr gegangen?«
»Nein, sie haben sich gestritten. Wegen diesem Typen. Der Wennie geholfen hat auszuziehen.« Das Wennie sagte sie mit einer solchen Verachtung, dass es mir in der Seele wehtat. Aber doch bestimmt nicht, weil da plötzlich von einem anderen Typen die Rede war; schließlich war ich ihr Typ. Wenn irgendein Freund, jemand, den sie bei der Arbeit kennengelernt hatte, ihr dabei geholfen hatte, ihre Sachen zu transportieren, konnte mir das doch gleichgültig sein. Natürlich hatte sie männliche Freunde. Schließlich hatte ich mich hier auch mit einem Mädchen angefreundet, oder?
»Ist Renee denn da? Kann ich mit ihr sprechen?«
»Nein, die hat eine Verabredung.« Jetzt musste irgendein Groschen
Weitere Kostenlose Bücher