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Joyland

Titel: Joyland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Und das Beste? Ich verschwendete nicht einen Gedanken auf Wendy Keegan.
    Als die Musik in die Titelmelodie von Sesamstraße überging, hörte ich auf zu tanzen, ließ mich auf eines der gepolsterten Knie sinken und breitete die Arme aus wie Al Toison.
    »HO WWWIE!«, schrie ein kleines Mädchen, und selbst nach all den Jahren höre ich immer noch die maßlose Begeisterung in ihrer Stimme. Sie kam auf mich zugerannt, wobei das rosafarbene Röckchen ihre Knubbelknie umflatterte. Der Bann war gebrochen. Die geordnete Zweierreihe löste sich auf.
    Die Kinder wissen, was zu tun ist, hatte der alte Hase gesagt – wie recht er doch gehabt hatte. Erst fielen sie über mich her, und dann rissen sie mich zu Boden und umarmten mich lachend. Das kleine Mädchen in dem rosafarbenen Röckchen küsste mir mehrmals die Schnauze und schrie dabei: »Howie, Howie, Howie!«
    Einige der Eltern, die im Wiggle-Waggle vorbeischauten, um Bilder zu schießen, kamen, offenbar genauso fasziniert, näher. Ich strampelte mit den Pfoten, um mir etwas Platz zu verschaffen, rollte mich herum und stand auf, bevor die Kinder mich mit ihrer Liebe erdrücken konnten. Allerdings liebte ich sie in dem Moment genauso. Für so einen heißen Tag war das ziemlich cool.
    Ich bemerkte nicht, wie Mr. Easterbrook in die Innentasche seines Leichenbestatteranzugs griff, ein Walkie-Talkie hervorholte und kurz hineinsprach. Ich wusste nur, dass die Titelmelodie von Sesamstraße plötzlich ausgeblendet wurde und der »Hokey Pokey« noch einmal lief. Ich streckte die linke Pfote vor und zog sie wieder an. Die Kids machten sofort begeistert mit, ohne den Blick von mir abzuwenden – sie wollten keine einzige Bewegung verpassen oder aus dem Takt kommen.
    Bald tanzten alle an der Kreuzung Jellybean und Candy Cane den Hokey Pokey. Die Grünschnäbel schlossen sich uns an. Und bei Gott, selbst ein paar der Eltern! Ich streckte sogar meinen langen Schwanz vor und zog ihn wieder an. Die Kinder lachten wie verrückt, drehten sich um und taten es mir nach, nur eben mit unsichtbaren Schwänzen.
    Als das Lied zu Ende war, machte ich eine weit ausholende Geste mit der linken Pfote (wobei ich mir aus Versehen fast den Schwanz abgerissen hätte) und führte die ganze Horde zum Howdy House hinüber. Sie folgte mir genauso bereitwillig wie die Kinder von Hameln dem Rattenfänger, und kein einziges Kind weinte mehr. Und das war nicht einmal der beste Tag meiner (wenn ich das sagen darf) glänzenden Karriere als Howie the Happy Hound, aber viel fehlte nicht.
    *
    Nachdem alle sicher im Howdy House waren (das kleine Mädchen mit dem rosafarbenen Röckchen stand am längsten in der Tür und winkte mir), drehte ich mich um, und als ich innehielt, schien sich die ganze Welt weiterzudrehen. Der Schweiß lief mir in die Augen, und ich sah das Wiggle-Waggle Village plötzlich doppelt. Ich stand auf den Hinterpfoten und schwankte. Von meinen ersten Hokey-Pokey-Schritten bis zu dem Zeitpunkt, wo mir das Mädchen zum Abschied gewinkt hatte, waren nur ungefähr sieben Minuten vergangen – allerhöchstem neun –, aber ich war völlig erledigt. Ich stapfte den Weg zurück, den ich gekommen war, ohne genau zu wissen, was ich als Nächstes tun sollte.
    »Mein Sohn«, sagte da jemand. »Hier entlang.« Das war Mr. Easterbrook. Er hielt eine Tür auf der Rückseite der Wishing Well Snack Bar auf. Bestimmt war das die Tür, durch die ich auch gekommen war, aber da war ich zu angespannt und aufgeregt gewesen, als dass ich meine Umgebung wahrgenommen hätte.
    Er führte mich hindurch, schloss die Tür hinter uns und zog den Reißverschluss meines Kostüms auf. Howies überraschend schwerer Kopf fiel herunter, und meine feuchte Haut nahm begierig die kühle, klimatisierte Luft in sich auf. Auf meinen Armen, die noch immer winterlich weiß waren (was sich allerdings bald ändern würde), bildete sich eine Gänsehaut. Ich atmete tief durch.
    »Setzen Sie sich auf die Treppe«, sagte er. »Ich ruf Ihnen gleich einen Wagen, aber jetzt sollten Sie sich erst einmal ausruhen. Die ersten Auftritte als Howie sind immer schwierig, und was Sie gerade abgeliefert haben, war besonders anstrengend. Und auch außergewöhnlich.«
    »Danke.« Mehr brachte ich nicht heraus. Bevor Easterbrook mich in den kühlen, stillen Raum gezogen hatte, war mir gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich an meine Grenzen gelangt war. »Vielen, vielen Dank.«
    »Beugen Sie sich vor, damit Sie mir nicht umkippen.«
    »Nein, nein, schon okay.

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