Jud Sueß
Jämmerlichkeit stürzte, war dies der echteste Schmerz, den sie all ihrer Tage gespürt hatte. Sie hatte dann in ihrem Sohn Josef den Vater wiedererlebt, atemlos und schwach vor Bewunderung hatte sie seinen beglückenden Aufstieg mit angeschaut, alle Jugend und Süßigkeit, allen Glanz und Rausch liebte sie in dem Sohn, sie schwamm selig in hemmungslos gläubigem Aufblick zu seinem Genie, seinem Stern, seiner Herrlichkeit. Und nun wiederholte sich in ihm noch viel grausiger Wendung und Sturz des Vaters.
Sie hatte erst geglaubt, die Haft des Sohnes sei eine List, eine Vermummung, aus der er bald um so glänzender auftauchen werde. Aber jetzt mußte sie sehen, daß es gräßlicher Ernst war. Das Urteil war zwar noch nicht bekannt, aber immer drohender und bestimmter hieß es im ganzen Reich, daß die Württemberger ihren gewesten Finanzienrat in den allernächsten Wochen würden aufhenken. Das Liedchen: »Der Jud muß hängen!« wurde nicht nur am Neckar, sondern auch den ganzen Rhein hinauf, hinunter gepfiffen. Sie brachte den grausigen Gassenhauer nicht aus dem Ohr, wurde immer fahriger, ratloser. Machte ungeschickte Versuche, dem Sohn zu helfen, schrieb törichte Bittbriefe in die Welt hinein. Wenn wenigstens Rabbi Gabriel von sich hätte hören lassen! Sie schrieb einen drängenden, ratlosen Brief an ihn; aber sie wußte nicht, ob er ihn erreichte; denn sie hatte nur die Vermutung, keine Gewißheit, er sei in Holland. Sie schrieb ihrer verheirateten Tochter nach Wien, schrieb mit ihrer flatterigen, marklosen Schrift eine ganze Reihe von Briefen an dieWiener Oppenheimers, entschloß sich endlich zu diesem Äußersten, suchte ihren ältesten Sohn auf, den Getauften. Da saß sie nun, den Mund ängstlich, erwartungsvoll halb offen, schaute mit gescheuchten, törichten Augen auf ihn. »Was soll man tun? Was soll man tun?« jammerte sie.
Der Baron Tauffenberger rückte unbehaglich auf seinem Sessel, kramte nervös und mechanisch in seinen Papieren, zappelte herum. Er war ein fast kleiner, etwas zu feister Herr, die Haut hell und sehr gepflegt, die raschen Augen traten zu groß aus dem Kopf heraus, die Finger krümmten sich dick, weiß und beweglich, er war unelegant trotz reicher und sorgfältiger Kleidung. Sein Christentum war ihm unbehaglich bei aller gespielten Freigeisterei. Er mokierte sich gern über jüdische Sitte und jüdisches Wesen, verkehrte auch mit dem Helmstedter Professor Karl Anton und dem als Prediger nach Stuttgart versetzten früheren Propst von Denkendorf Johann Friedrich Paulus, die, beide frühere Juden, jetzt konvertiert und fanatische Verkünder der christlichen Heilslehren waren. Aber er neidete es dem jüngeren Bruder aus tiefster Seele, daß der es soviel weiter hatte bringen können als er selber und doch Jude bleiben. Auch hatte Josef ihn als einen Getauften unverhohlen und reichlich Spott und Verachtung spüren lassen, ihm, als sie einmal am kurpfälzischen Hof zusammengetroffen waren, kalt den Rücken gekehrt. Stießen sie geschäftlich aufeinander, so begannen sie ohne Vergleichsversuch zu prozessieren, und es reizte den Getauften bis aufs Blut, daß der Bruder voll Widerwillen und Ekel auch in importanten Affären es verschmähte, mit ihm persönlich zusammenzutreffen, und lieber, Verluste nicht scheuend, alles durch Agenten erledigen ließ. Der Sturz und die Schmach des Bruders traf ihn tief, auch wurde er darüber gehöhnt und gehänselt; gleichwohl konnte er, wie jetzt die Mutter ratlos vor ihm saß, für den geliebteren und bewunderten Sohn bei ihm zu betteln, ein leises Triumphgefühl nicht niederdrücken. »Da habt Ihr’s, da habt Ihr’s!« sagte er mehrmals mit seiner hohen, hellen Stimme. »Es geht nicht, daß einer da hinaufsteigt und Jud bleibt. Es schickt sich auchnicht«, eiferte er, heftig gestikulierend, »es soll nicht sein, es ist gegen göttliche Ordnung und menschlichen Fug.«
Aber Michaele ging nicht darauf ein. »Was soll man tun? Was soll man tun?« jammerte sie, immer im gleichen Ton.
Der feiste Mann stand auf, lief nervös herum, legte einen Stapel Akten von einer Seite des Tisches auf die andere. »Es gibt nur ein Mittel«, sagte er endlich. Da Michaele ihn gespannt und hoffend anschaute, nahm er Anlauf und warf es wie gleichmütig und selbstverständlich hin: »Er muß sich taufen lassen.«
Michaele überlegte. Dann sagte sie mutlos: »Er wird es nicht tun.« Und, nach einer Weile: »Rabbi Gabriel erlaubt es nicht.«
Der Sohn höhnte nach: »Erlaubt es
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