Judastöchter
bringt, mich zu begleiten.
»Dieser Morangiès hat vor seinem Tod verkündet, dass es die Aufgabe seiner Familie gewesen sei, irgendwas zu rächen. Genau habe ich es nicht verstanden. Die Morangiès’ wollten alle aus meiner Blutlinie umbringen!« Sia hoffte, dass Eric in der Nacht, als de Morangiès aufgetaucht war, nichts von dem kurzen Wortwechsel zwischen ihr und dem Franzosen mitbekommen hatte. Nur dann würde ihre Lüge funktionieren, die an seine Hilfsbereitschaft und Neugierde appellierte.
»Wie gut, dass ich ihn erledigt habe.«
»Verstehen Sie nicht? Er hat FAMILIE ! Das heißt, dass es andere geben muss, die da weitermachen, wo Sie ihn gestoppt haben. Jetzt ist meine Nichte verschwunden, und ich fürchte, dass es einer aus dieser Franzosenclique war.«
Das ist doch gut, oder? Habe ich ihn damit?
Schon aus eigenem Interesse müsste er handeln: Es gab noch mehr Feinde, die er besiegen musste.
Eric entgegnete zunächst nichts, lenkte den X6 auf die Wurzner Straße und schaltete das Licht ein. Es ging zurück in die Innenstadt von Leipzig. Ein Polizeifahrzeug fuhr an ihnen vorbei.
»Das wäre natürlich ein Ding«, sagte Eric nachdenklich. »Es wäre das erste Mal, dass sich die Morangiès’ an Kindern vergreifen. Jedenfalls an harmlosen Kindern.« Er sah sehr ernst aus.
»Können Sie mir helfen?«
Er nickte sofort. »Sicher. Ich wusste vorher nicht, dass es noch mehr von den De Morangìès gibt. Eigentlich dachte ich, der Comte sei der Letzte gewesen. Entweder haben Sie sich getäuscht, oder ich habe schlampig recherchiert.«
Sia hörte, dass außer Verwunderung auch Zweifel in seiner Stimme schwangen.
Ich lasse dich nicht vom Haken, schöner Mann.
»Er klang sehr sicher, als er es sagte«, beeilte sie sich.
Eric näherte sich mit den vorgeschriebenen fünfzig Stundenkilometern der Innenstadt.
Sia wurde ungeduldig, während eingestürzte Hallen aus der Zeit vor der Wende rechts und links an ihnen vorbeizogen.
»Wir sollten auf alle Fälle schnell herausfinden, was Ihrer Nichte zugestoßen ist«, sagte er endlich. »Wer auch immer dahintersteckt.«
»Sie helfen mir?« Sie tat überrascht.
Wurde auch Zeit.
»War das nicht Ihr Anliegen?«, gab Eric grinsend zurück, beschleunigte wieder und fuhr trotz der Geschwindigkeitsbegrenzung gewandt zwischen den übrigen Autos hindurch. Er konnte sehr gut fahren. »Ich tue damit was Gutes, und damit meine ich, was richtig Gutes. Vielleicht stöbern wir bei unserer Suche als Nebenprodukt doch noch die beiden Leipziger Werwölfe auf, die mir fehlen. Ach ja, und die restliche Familie Morangiès nicht zu vergessen.« Er schaltete runter und zog an einer Blechwarteschlange vor einer Ampel vorüber, an Sia flog ein Verkehrsschild ganz dicht vorbei. »Haben Sie einen Plan, Frau Sarkowitz?«
Sia hatte gehofft, dass sie mehr von ihm erfuhr. »Sie sagten, dass Sie recherchiert haben. Über mich und meine kleine Familie. Ist Ihnen dabei eine Sache aufgefallen? Oder eine bestimmte Person?«
»Außer Ihnen? Nein.«
Na, das war nichts.
Sie seufzte. »Dann fürchte ich, wir müssen uns von der Intuition treiben lassen und auf die Hilfe der Polizei vertrauen. Ich habe Elena von ihnen suchen lassen. Sie wollten Streifenwagen und die Spurensicherung zum Völkerschlachtdenkmal schicken. Da ist sie zum letzten Mal gesehen worden. Jedenfalls habe ich ihre Spur dort verloren.«
Eric fuhr sich über das Kinn, wo erste Stoppeln sprossen. »Möchten Sie dahin? Wir können die Beamten fragen, ob es schon was Neues gibt.«
In ihrer Verzweiflung stimmte sie zu und blickte zum Fenster hinaus. So hilflos wie heute hatte sie sich selten gefühlt.
Wie konnte die Kleine das nur tun? Und wieso war ich nicht zur Stelle?
Sia war über dreihundert Jahre alt, beherrschte als Judastochter Fertigkeiten und Tricks, die sie jedem Menschen und vielen anderen Wesen haushoch überlegen machte – und doch war sie nicht in der Lage, Elena ausfindig zu machen.
Was nützt mir die Windgestalt jetzt? Oder die außergewöhnliche Kraft oder Geschwindigkeit?
»Was für eine Art Vampirin sind Sie?«
Seine dunkle Stimme riss sie aus ihren sich unentwegt wiederholenden Schuldgedanken, und Sia wandte sich ihm zu. »Was glauben Sie denn?«
Eric zuckte mit den muskulösen Schultern. »Es ist noch gar nicht so lange her, da hatte ich keine Vorstellung von Vampiren. Falsch: von
echten
Vampiren. Bislang habe ich mich immer mit Werwölfen herumgeschlagen und kaum einen Gedanken an Ihre Spezies verschwendet.
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