Judastöchter
Anblick bot sich ihr im dritten Geschoss, im vierten sah es nicht anders aus.
Was für eine Verschwendung.
Dennoch nahm sich Sia die Zeit und durchstreifte jedes Zimmer.
Ihre Mühe wurde belohnt.
Im vierten Stock, im letzten Zimmer, stand eine weiße Pappschachtel. Das Mondlicht schien darauf und hob sie besonders vom dunklen Boden ab, strahlte die Vampirin regelrecht an.
Hat was Surreales.
Sia näherte sich der Schachtel. Von Hand war vorne drauf geschrieben worden
Papierkram,
dem Schwung nach von einer Frau.
Ein Überbleibsel der alten Bewohner als Gruß an die neuen?
Sie öffnete die Schachtel, nicht ganz ohne Misstrauen.
Weder detonierte eine Bombe, noch wurde Säure oder Gas freigesetzt: Sie sah auf einen Berg voller ungeöffneter Umschläge, die sie rasch durchschaute.
Von der Adressierung her kam die Mehrzahl von einer Behörde, und sie waren alle an einen Eric de Lavall gegangen, wohnhaft in München. Einige trugen den Stempel
verzogen,
auf anderen klebte der Vermerk
Nachsendeauftrag;
die neusten Kuverts hatten nur noch ein Postfach als Anschrift.
Zwei, drei kleinere Umschläge waren von Hand beschriftet. Die Absenderin hatte sich nicht zu erkennen gegeben – jedenfalls unterstellte Sia dem Verfasser, eine Frau zu sein, aber nicht die gleiche, die
Papierkram
auf den Karton notiert hatte. Den Stempeln nach waren diese Briefe bis auf einen aus Frankreich verschickt worden, der letzte
stammte aus Italien.
Schließlich fand Sia ganz unten einen Brief: ein amtliches Schreiben und ein paar hinzugefügte Zeilen.
Sehr geehrter Herr Lavall,
hiermit teilen wir Ihnen mit, dass die Anzeige gegen Sie wegen häuslicher Gewalt zurückgezogen wurde.
Gleichzeitig bestätigen wir den Eingang Ihres Schreibens vom 26.7., in dem Sie Ihre Anzeige gegen die Beschuldigte Lena von Kastell wegen häuslicher Gewalt zurückziehen. Somit werden beide Anzeigen gelöscht.
Die bisher entstandenen Verwaltungskosten in Höhe von
560
Euro werden jeweils von Ihnen beziehungsweise Ihrer Frau selbst beglichen.
Da ging es ordentlich zur Sache.
Sia drehte das Blatt um, auf dem die Papierkram-Frau geschrieben hatte:
Es tut mir leid, aber es geht nicht anders.
Das Sanctum hat nichts besser gemacht, jedenfalls nicht bei dir. Der Scheidungstermin ist am 11.11. Sei bitte pünktlich.
Versuche, mich zu verstehen, denn es geht auch um unsere Tochter!
Aha. Jetzt weiß ich etwas mehr über ihn.
Gleichzeitig stand natürlich die Frage danach im Raum, was ein Sanctum war und welche Rolle es in der Auseinandersetzung gespielt hatte.
Das finde ich auch heraus. Bei nächster Gelegenheit.
Sia packte alles wieder zurück in den Karton und schaute in den leuchtenden Mond. Sie mochte das silbrige Licht, in dem die Welt viel schöner aussah als in der Sonne. Ruhiger, majestätischer und entrückter.
Als sie auf die Uhr blickte, erschrak sie. Über eine Stunde hatte sie vertrödelt.
Nichts wie zurück an die Arbeit.
Genauso leise, wie sie bisher unterwegs gewesen war, kehrte sie auch ins Erdgeschoss zurück. Sollte das Haus einen Keller haben, verzichtete sie auf eine Inspizierung. Die Tätowierungen der Erschossenen warteten darauf, entschlüsselt zu werden.
Sie öffnete die Tür ins Büro und sah Eric vor ihrem Computer sitzen. Er bearbeitete die Bilder mit den eingestochenen Symbolen nochmals nach, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die Sia beachtlich fand.
Klicken, ziehen, auf der Tastatur Buchstaben drücken, speichern, klicken … »Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat.«
»Das Haus ist groß. Es dauert, bis man alle Räume erkundet hat«, gab er zurück. »Waren Sie auch im Keller?«
Sia fühlte sich ertappt. »Nein. Keine Zeit«, antwortete sie ehrlich. »Warum haben Sie sich ein so großes Haus gemietet, wenn Sie es nicht brauchen?«
»Ich habe es gekauft, es war günstig.« Eric hakte, scrollte und machte. »Ich glaube, ich habe etwas.« Erst jetzt schaute er sie an. »Sie nutzen nicht oft moderne Technik, oder?«
»Schon. Aber anders als Sie.« Sia stellte sich neben ihn. »Und?«
»Ich könnte Ihnen jetzt erklären, was ich gemacht habe und welche Tools ich genutzt habe, aber das wäre Ihnen egal, richtig?«, schätzte er, und sie nickte. »Dachte ich mir. Das Resultat heißt … nein, anders. Da es keine einhundert Prozent gab, wollte ich, dass mein Programm mir auch ähnliche Zeichen meldet.« Er drückte Enter, und ein zweites Fenster schob sich nach vorne, die Symbole wurden
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