Judastöchter
langsamer war, beherrschte Eric extrem gut. Kein Rennfahrer und kein Stuntman würde es mit ihm aufnehmen können.
»Ich weiß es nicht«, heulte Hildegard. »Kommen Sie schnell. Ich habe eine Nachricht für Sie.«
»Wir sind gleich bei Ihnen.« Sia legte auf und stieß einen lauten Frustschrei aus, schlug gegen das Handschuhfach. Es knisterte, und das Material zierte nun ein langer Riss.
Ich bin viel zu sorglos gewesen.
»Bullen.« Eric fuhr langsamer. »Sie stehen vor dem Krankenhaus. Ich schlage vor, Sie lotsen mich auf Schleichwegen. Kann sein, dass uns am Ende noch einer von vorhin erkennt.«
Drauf geschissen!
Sia musste sich zusammenreißen, ihn nicht sitzenzulassen und loszusprinten. Sie kannte die andere Einfahrt, die von den Entsorgungsunternehmen benutzt wurde, und dirigierte ihn dahin; die Schranke öffnete sie mit einem Spezialschlüssel.
Kaum hielt der BMW , stieg sie aus und rannte los. Eric folgte ihr in den Fahrstuhl, es ging in die dritte Etage. Sie schwiegen auf dem Weg nach
oben.
Entführt! Verdammte … Wie konnte das passieren? Wo waren die Sicherheitskräfte?
Die chirurgische Abteilung kannte Sia nicht ganz so gut. Selten hatte sie hier Sitzwache gehalten, deswegen war sie dem Personal
nicht unbedingt bekannt.
Die Kabine hielt, und sie stiegen aus.
Eine Lernschwester sah sie, als Sia und Eric sich auf den gläsernen Stützpunkt des Personals zubewegten, und lief ihnen entgegen. »Hallo, Frau Sarkowitz«, sagte sie und langte in die Tasche. Auf dem Schildchen auf ihrer rechten Brust stand
Melanie
.
»Hallo.«
Woher kennt sie mich?
Sia wollte der Nachname der jungen Frau nicht einfallen. »Können Sie mir sagen, wo ich Schwester Hildegard finde?«
»Und was ihr zugestoßen ist?«, fügte Eric an.
»Zimmer 311. Sie ist angeschossen worden. Hand und Schulter, zwei Finger hat sie eingebüßt. Wenn es stimmt, was ich gehört habe, waren es zwei verschiedene Gruppen von Leuten. Mit automatischen Waffen, wie in einem Actionfilm.« Melanie stellte sich ihnen in den Weg. »Aber Hilde steht unter Polizeischutz, weil sie eine wichtige Zeugin ist. Wir dürfen niemanden zu ihr lassen. Es sind drei Polizisten vom SEK bei ihr, um sie zu beschützen.« Schnell zog sie einen Umschlag hervor. »Der ist von Hildegard. Für Sie.«
Sia nahm ihn an sich. Zu gerne hätte sie mit Hildegard gesprochen, aber es gab schon Aufregung genug in Leipzig. Sie konnte nicht noch drei Polizisten ausschalten.
Die Nachricht.
Sie öffnete das Kuvert.
»Wie viele Männer waren es, wissen Sie das?«, setzte Eric die Befragung fort.
»Nein. Hilde ist noch total durcheinander, und Oberarzt Al Fasiri hat ihr Beruhigungsmittel gegeben. Sie hat einen unglaublichen Schock. Die Beamten haben sie auch noch nicht vernehmen können.« Melanie wirkte selbst ganz aufgeregt, was Sia nicht verwunderlich fand. In einem normalen Leben war es eher ungewöhnlich, dass Menschen mit Schnellfeuerwaffen auftauchten und einen brutalen Überfall mit Entführung begingen.
Ich hoffe, dass ich einen Anhaltspunkt bekomme.
Sia zog einen Zettel hervor, auf dem in Englisch geschrieben stand:
Judastochter,
wir haben Deine Schwester und Deine Nichte.
Wenn Du sie lebend wiederhaben willst, komm nach London und checke im Hotel Manorhouse ein. Dort wirst Du weitere Informationen
erhalten.
Bist Du innerhalb von
48
Stunden nicht aufgetaucht, sterben die beiden.
Sídhe
Was ist denn das für eine …
Sia fehlten die Worte. London.
Dank Eurotunnel hoffentlich kein Problem.
Sie reichte den Zettel an Eric weiter. »Was wissen Sie sonst noch?«
Melanie hob die Achseln. »Leider nichts. Wie gesagt, Hilde schläft.«
»Dann richten Sie ihr viele Grüße aus«, sagte Sia und wandte sich zum Fahrstuhl um. Eric nickte ihr bestätigend zu und stieg in den Lift.
Das nächste Ziel hieß London. Aber vorher musste sie ihm noch gestehen, welche Probleme es bei der Reise geben würde. Die Strecke musste ohne das Kreuzen von offen liegenden fließenden Gewässern gefahren werden.
Den eingehenden Anruf der Polizei drückte sie weg. Sie konnte sich denken, was man von ihr wollte. Die Beamten hatten inzwischen einige Mysterien zu lösen, wie zum Beispiel dass ein Motorrad als gestohlen und ein Kind als vermisst gemeldet worden waren. Von einer Komapatientin.
Ein Wunder.
Und genau so eines brauchte Sia jetzt auch, sollte es noch so klein sein.
* * *
4. Februar, Großbritannien, Nordirland,
in der Nähe der Dundrum Bay, 07.42 Uhr
Rainal Righley
Weitere Kostenlose Bücher