Judastöchter
verstand es falsch. »Sie müssen nicht glauben, dass ich Ihnen Erlösung nicht gönnen würde.«
»Es ist nicht wegen Ihrer Bemerkung«, grollte sie. »Ich würde zu gerne denjenigen zerfleischen, der mir meine Schwester und meine Nichte gestohlen hat.«
»Ah.« Eric blieb auf der Überholspur, mit Dauerblinken und aufgeschaltetem Fernlicht. Wie ein echter Franzose.
Sia beschäftigte nach wie vor, was sie gehört hatte. »Wie sehen Sie Ihre Zukunft, Eric?«
»Ich werde eines Tages oder eines Nachts niemanden haben, der mich aus einer misslichen Lage befreit, so wie Sie es damals getan haben. Das war’s dann«, erwiderte er nüchtern. »Kein Verlust für die Menschheit.«
»So? Sie schalten die Dämonendiener aus. Ich kenne nicht viele, die das tun.«
»Echt? Wie viele kennen Sie denn überhaupt?«
Sia grinste gegen ihren Willen. »Erwischt. Ich kenne niemanden. Es gibt keine Superhelden, die sich in die Schlacht für die ahnungslosen Menschen werfen. Ja, ich weiß: außer Ihnen.«
»Danke sehr. Klingt gut, wie Sie es sagen.« Eric hatte einen Humor, der ihn in Sias Augen unglaublich sympathisch machte.
Ein gutaussehender, cooler Typ.
Sie fühlte sich mit ihm verbunden, weil auch er private Verluste erlitten hatte und sich ohne Zweifel vorstellen konnte, wie es in ihr tobte. Das mitfühlende Lächeln, das er ihr schenkte, beruhigte sie.
Sie blickte aus dem Fenster, zu den schwarzen Wogen, auf denen sich die Lichter der Fahrzeuge spiegelten. Ihre Augen machten ihr das Sehen im Dunkeln leicht …
Warten. Nichts als warten!
Wie sehr Sia das hasste.
»Was kann man eigentlich als Vampirin?«
Sie blickte unentwegt aufs Wasser. »Als Vampirin oder als Judastochter?«
»Oh, gibt es da so viele Unterschiede?«
»Ja. Wie ist es denn bei Wandlern?«
Eric verlangsamte die Fahrt, weil sie auf eine hell beleuchtete Mautstelle zuhielten. Die Franzosen verlangten von jedem Geld, der die Autobahn benutzte. Diese Sperren zu durchbrechen war nicht ratsam. »Sie sind gleich. Mir ist noch keiner begegnet, der Feuer spucken oder sich unsichtbar machen kann. Tierform und Halbform, physische Überlegenheit und ein für Menschen einschüchterndes Auftreten, das ist allen gemein. Feinheiten sind mir entgangen. Und Silber erledigt sie. Ausnahmslos.«
»Das ist fast langweilig.« Sia sah, dass der Fluss nach rechts abbog und in der Nacht verschwand. Sie war sicher.
Als hätte es daran Zweifel gegeben. Er hätte keinen Fehler gemacht.
»Bei Vampiren gibt es stattliche Unterschiede, und einige sehen aus wie Werwölfe. Vielleicht sind Sie denen schon begegnet.«
»Und die Kinder des Judas sind die Luxusausgabe, ja?«
Sia setzte sich gerade hin und klappte das Netbook zu.
Warum will er das wissen?
»Stehe ich auch auf Ihrer Abschussliste?«
»Nein. Ich würde gerne wissen, was Sie im Kampf liefern können.« Er zwinkerte. »Nicht, dass ich am Ende alles alleine machen muss.«
»Sie können sich auf mich verlassen. Ich bin schnell und kann mit Waffen umgehen.«
»Das weiß ich doch.« Eric ließ den X6 ausrollen und hielt an der Mautstation an.
Ein junger Mann saß in einem kleinen Häuschen, dick eingepackt in eine himmelblaue Daunenjacke, und wollte das Billett.
Eric zog von irgendwo aus der Ablage eins her, reichte es zusammen mit der Kreditkarte durchs Fenster.
Sia sah nach vorne, wo die Straße zuerst zu einem grauen und dann schwarzen Band wurde, das mit der Nacht verschmolz.
Wir fahren in die Finsternis. Dunkel wie mein Gemüt.
Noch einmal schwor sie dem Entführer von Emma und Elena den Tod – ein Gelübde, das ihr ganzes Dilemma offenlegte: Sie war zur Untätigkeit verdammt.
* * *
4. Februar, Großbritannien, Nordirland,
in der Nähe der Dundrum Bay, 07.59 Uhr
Rainal öffnete die Tür langsam, um zu verhindern, dass der Officer mit der Maschinenpistole eine Salve in seinen Körper jagte.
Hektisch überlegte er, ob und woher er den Namen Sídhe kannte. Eine Person? Eine Organisation? Jemand, den er reingelegt oder dessen Aufmerksamkeit er erregt hatte?
Natürlich hatte Rainal den Begriff in einem anderen Zusammenhang schon gehört. Seine Großmutter hatte ihm die Geschichten von den Sídhe erzählt, dem Feenvolk, das in den Hügeln lebte.
Er tippte auf einen Tarnnamen für eine hochrangige Persönlichkeit aus dem Umfeld der Scharfrichterin. Möglicherweise hatte sie Feinde, die sie loswerden wollten und brauchte dafür einen cleveren, mit allen Wassern gewaschenen Typen. Einen wie ihn.
Hoffnung keimte auf,
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