Judaswiege: Thriller
die Hand und stieg aus dem Wagen.
Nachdem Klara ihr Mittagessen auf dem Armaturenbrett zwischengelagert hatte, schloss sie zu ihm auf. Das rote Backsteinhaus hatte ein graues Schieferdach, das es beinah europäisch wirken ließ. Die verbauten Materialien wirkten hochwertig, neben der kleinen Treppe lag ein umgeschmissenes Kinderfahrrad. Dies war das Haus eines reichen Mannes, der es nicht nötig hatte, mit schierer Größe zu protzen, und stattdessen auf Understatement für Kenner setzte, und das Fahrrad verriet Sam, dass Tammy Geschwister hatte. Der Hausbesitzer war Sam schon jetzt sympathisch, auch wenn er sich selbst ein solches Schmuckstück natürlich niemals leisten könnte. Der Klingelknopf war schlicht und aus Messing, »Walker Family« stand in elegant geschwungenen Lettern darauf. Kurz darauf ertönte im Inneren des Hauses eine angenehme Glocke, die Sam noch stärker hoffen ließ, dass ihm Tammy Walker die Tür öffnen würde, als sei nichts gewesen. Bitte, lass sie einfach dastehen, lachend und fröhlich, wie Zwanzigjährige aussehen sollen, das Leben noch vor sich und voller Zuversicht.
Er tauschte einen Blick mit Klara, die sich daraufhin auf den Weg machte, die Rückseite des Hauses zu erkunden, und tappte nervös mit dem Fuß. Aus dem Inneren des Hauses rief eine Frauenstimme: »Kleinen Moment, bitte, ich bin gleich da.« War das Tammy? Eine knappe Minute später kannte Sam die Antwort, als eine fröhliche, aber mindestens doppelt so alte Frau aus dem Haus stürmte. Sie hätte Sam fast über den Haufen gerannt, aber Sam wich ihr mit einer eleganten Drehung aus. Sie sah ihn entgeistert an, offenbar hatte sie jemand gänzlich anderen erwartet. Doch nicht etwa ihre Tochter Tammy?
»Miss Walker?«, fragte Sam mit seiner Ich-bin-die-Staatsgewalt-haben-Sie-keine-Angst-Stimme.
Sie streckte ihm höflich die Hand hin: »Ja, Audrey Walker. Und Sie sind?«
»Sam Burke, FBI«, er hielt ihr seinen Dienstausweis vor die Nase, dessen blank poliertes Emblem in der Sonne funkelte.
»FBI?«, fragte Miss Walker erstaunt.
»Es geht um Ihre Tochter Tammy, Miss Walker.«
In diesem Moment bog Klara um die Ecke und schüttelte den Kopf, bevor die Hausherrin sie sehen konnte. Danach stellte auch sie sich höflich vor, aber Audrey Walker wirkte jetzt ernsthaft beunruhigt und wandte sich wieder an Sam.
»Was will das FBI von meiner Tochter? Hat sie etwas ausgefressen? Doch wohl schwerlich etwas, das die Bundesbehörden interessieren würde. Ich weiß, sie hat manchmal einen etwas rüden Fahrstil, aber …«
»Nein, Miss Walker, Tammy hat sich nichts zuschulden kommen lassen«, unterbrach sie Sam. »Könnten wir das vielleicht im Haus besprechen?«
Audrey Walker fuhr sich nervös durch die Haare, schien aber ihre Fassung wiedergewonnen zu haben. Sie nickte und bat sie mit einer freundlichen Geste hinein. Sie setzten sich in das Wohnzimmer, in dessen Mitte ein beigefarbenes Sofa stand, die Wände waren dunkelrot gestrichen. Miss Walker nahm auf einem Ledersessel Platz, Sam und Klara saßen steif auf dem beigen Ungetüm. Der Raum war freundlich, warm und hätte auch in einer Landhausstil-Zeitschrift eine gute Figur gemacht. Ebenso wie die Hausherrin, die ihnen Kaffee oder Wasser anbot, was Sam dankend ablehnte. Er wollte so schnell wie möglich zur Sache kommen, aber es war ebenso wichtig, dass die Mutter von ihrer schrecklichen Vermutung in ihrer gewohnten Umgebung erfuhr. Das steigerte ihre Chancen auf eine vernünftige Antwort, wie Sam nur zu gut wusste.
»Miss Walker, wir müssen leider davon ausgehen, dass Tammy in Gefahr schwebt. Wo hält sich Ihre Tochter im Moment auf?«
»Was meinen Sie mit ›in Gefahr‹?« Ihre Stimme überschlug sich in der aufsteigenden Panik.
»Wir befürchten, dass ihr jemand etwas antun könnte. Sie ist ins Visier eines Verbrechers geraten, Miss Walker. Bitte sagen Sie uns, wo sie ist«, sprach Sam mit ruhiger, aber eindringlicher Stimme.
»Sie ist in einem Sommercamp, Zelten mit zwei Freundinnen.«
Sam zückte sein Notizbuch. Indem er eifrig notierte, versuchte er, seine Enttäuschung so gut es ging zu verbergen: »Wo genau campieren die Mädchen?«
»Nicht weit von hier, am State Park Beach.«
»Hat sie ein Handy dabei, Miss Walker?«
»Ja, natürlich …«, bestätigte die Mutter.
»Würden Sie sie bitte anrufen?«, bat Sam.
»Aber wieso …«
»Jetzt«, unterbrach sie Sam und hielt ihr sein Handy hin. »Bitte.«
Audrey Walker nahm mit zitternden Händen das Telefon
Weitere Kostenlose Bücher