Judaswiege: Thriller
großen Milchkaffee. Bepackt mit ihrer Tüte in der rechten und den Kaffee in der linken Hand balancierend, ging sie mit für Klara gänzlich untypisch schwankenden Schritten zurück zu dem einzigen Gast, der ihr Mann sein konnte. Sein musste. Sie setzte sich ein paar Tische entfernt von ihm in eine Nische und schlürfte den Kaffee. Als Nächstes packte sie die Schuhe aus dem Karton und stellte sie auf den Tisch, als wolle sie sie noch einmal begutachten. Männer wussten, dass Frauen Schuhe immer gerne umtauschten. Deshalb würde es auch nicht auffallen, wenn sie eine Freundin anrief und sich noch einmal zu ihrem letzten Kauf beriet.
Klara zückte ein Mobiltelefon und machte ein Handyfoto, das sie einer Freundin mailte. In Wahrheit hatte sie genau darauf geachtet, dass anstatt der Sneaker der Mann im Hintergrund scharf abgebildet wurde, und sie schickte das Foto nicht etwa an eine Freundin, sondern an Sam. Keine fünfzehn Sekunden später hörte sie bei einem großen Schluck Kaffee, während sie munter mit der imaginären Freundin über die Farbe plapperte, Sams Stimme in ihrem Ohrstöpsel: »Ich weiß nicht, Klara. Er ist ein wenig zu alt, aber natürlich ist das keine exakte Wissenschaft. Was sagt dein Gefühl?«
»Meinst du wirklich? Ich weiß nicht. Ist die Farbe nicht zu düster? Nein, ich glaube, ich bringe sie zurück.«
Sam würde schon etwas damit anfangen können, sie machten so etwas schließlich nicht zum ersten Mal, auch wenn er mittlerweile vielleicht etwas eingerostet war.
»Okay, Klara, hast du irgendeine Idee?«
»Das Problem ist doch, wenn ich die einmal getragen habe, dann kann ich sie nicht mehr zurückgeben, oder?«
Es dauerte nur einen Augenblick, bis Sam begriffen hatte: »Ja, das sehe ich auch so. Wenn wir einen Fehler machen, merkt er vielleicht, dass ›Thunder‹ uns auf seine Spur gebracht hat, und wenn der nette Bursche da nicht unser Mann ist, haben wir ein noch größeres Problem. Was schlägst du vor?«
»Du meinst, wenn ich sie mit nach Hause nehme und nur im Haus trage, kann ich sie trotzdem zurückgeben? Komm, Pia, das ist doch Bulimieshopping!«
Das war eine härtere Nuss für Sam. Es dauerte ein weiteres Drittel ihres Kaffees, bis Sam begriffen hatte, was sie meinte.
»Okay. Jetzt habe ich verstanden. Du meinst, wenn wir ihn nicht finden können, müssen wir dafür sorgen, dass er Wesley weiterhin vertraut. Wir opfern also lieber deine Aktion vor Ort als seine Beziehung zu ›Thunder‹ und scheuchen ihn auf. Einverstanden. Halt dich bereit, okay?«
Klara beendete das Telefonat mit ihrer Freundin und probierte nacheinander beide Schuhe an, immer darauf bedacht, ihren Gesichtsausdruck zwischen kritisch und kauffreudig wechseln zu lassen, während sie darauf wartete, dass Wesley ihren Plan in die Tat umsetzte. Ihr Kaffee neigte sich fast dem Ende zu, lange konnte sie ihre Rolle nicht mehr spielen. Und wenn er wirklich ihr Mörder war, konnte es schnell verdammt ungemütlich werden. Sie wechselte wieder zu ihren normalen Schuhen und verstaute ihren Einkauf umständlich in der Tüte, als in ihrem Ohr das erlösende Knacken ertönte. Es war Sam: »Okay, Klara, jetzt.«
Der Mann an dem Laptop kratzte sich hinter dem Ohr. Eine erschreckte Geste? Eher nicht. Er setzte den rechten Fuß vor den linken. Dann stand er auf. Klara folgte ihm unauffällig mit ihren Blicken. Er hatte seinen Laptop stehen lassen. Reine Taktik? Ihr Mann lief Richtung Selbstbedienungstheke. Klaras Muskeln waren angespannt, jederzeit bereit, aufzuspringen und ihn zu stellen. Der Mann holte sich eine Cola und trat seelenruhig den Rückweg zu seinem Laptop an. Dann setzte er sich, nippte an seinem Glas und fing wieder an zu tippen. Er war nicht ihr Mann.
Verzweifelt blickte Klara sich nochmals in dem Raum um, ob sie jemand übersehen hatte, aber sie konnte beim besten Willen niemanden entdecken, der auch nur im Entferntesten ihr Mörder sein könnte. Als sie aufstand, fiel ihr Blick aus dem Fenster auf das Gebäude, das neben dem Einkaufszentrum stand: ein Motel. In dem Moment wusste Klara, wo der Mörder gewesen war. Und sie hatte dafür gesorgt, dass Wesley ihn warnte. Sie stolperte aus dem Café und schleuderte die Tüte mit den Turnschuhen wütend in einen riesigen Papierkorb. Auf dem Weg nach draußen rannte sie über die Rolltreppen, aber sie wusste bereits, dass sie zu spät kommen würde.
K APITEL 25
Oktober 2011
Chicago, Illinois
Ungläubig starrte er auf die letzten Zeilen des
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