Judaswiege: Thriller
Nacht, die er neben seinem Schreibtisch verbrachte. Seit der Entführung von Tammy Walker hatten sie keine ruhige Minute mehr gehabt. Er schälte sich unter der dünnen Decke hervor und ging zu seinem Kleiderschrank, den er für solche Fälle eingerichtet hatte: drei gleiche Anzüge, drei Paar gleiche Socken, drei Paar Schuhe, ein brauner und zwei schwarze Gürtel. Ein Sechstel seiner Garderobe befand sich hier statt zu Hause, und das Austauschen der Notfallration gehörte für ihn zum Abschluss eines jeden Falles wie für andere das Aufräumen ihres Schreibtisches, was bei Sam, der peinlich genau darauf achtete, dass sich keine Aktenberge bei ihm stapelten, nicht nötig war.
Mit dem frischen Anzug auf dem Arm machte er sich auf den Weg zur Schwimmhalle, die normalerweise dem Training der Rekruten vorbehalten war, aber es sollte nur einer versuchen, ihn aufzuhalten. Für Sam war die morgendliche Dusche ebenso unverzichtbar wie der Kaffee, den er sich auf dem Rückweg aus einem der grausigen Automaten ziehen würde, bis Anne oder Klara ihn mit einem mitgebrachten extragroßen Becher mit viel Muskat ohne Zucker erlösen würde.
Immer noch nicht weniger müde, aber zumindest wach genug für seine erste Besprechung und vor allem mit frischen Schuhen ausgestattet, betrat Sam um 08:04 Uhr ihren neuen Hightech-Besprechungsraum. Trotz der Monitore sah der große Tisch in der Mitte aus wie ein Schlachtfeld: Überall lagen Berge von Papier, Ausdrucke von möglichen Routen, Berichte der Spurensicherung, Aussagen der Freundinnen, der Familie, aller möglichen Bekannten.
Das FBI hatte beinah das gesamte Chicagoer Büro mobilisiert, über hundertfünfzig Beamte sammelten Informationen und verfolgten sämtliche Spuren, die zu Tammy führen könnten. Ihre Uni wurde durchforstet ebenso wie ihr Sportverein, das gesamte Waldgebiet rund um das Auto war systematisch durchkämmt worden – ohne Ergebnis. Wenigstens ist die verdammte Karre nicht in die Luft geflogen, dachte Sam und setzte sich auf einen Stuhl vor das Chaos, das ihm beinahe körperliche Schmerzen bereitete. Für einen Schreibtischminimalisten wie ihn waren die unordentlichen Haufen Monster aus einem Albtraum, am liebsten hätte er alles in einen großen Papierkorb gefegt, aber er wusste, dass Bennet, Anne und Wesley jeweils ein eigenes System hatten und dass die Haufen für sie so sortiert wirkten wie für ihn säuberlich aufgereihte Aktenordner.
Sam legte die Füße auf den Tisch und nippte an seinem Kaffee, der lasch und säuerlich schmeckte. Die Bildschirme waren dunkel, nur die Lüftungen surrten leise. Das Geräusch beruhigte Sam, und es half ihm beim Nachdenken. Bis spät in die Nacht hatten sie den Einsatz der Kollegen koordiniert und verzweifelt auf das Ergebnis der Spurensicherung an der Bombe gewartet, die viel zu lange auf sich warten ließ. Schließlich hatte Sam sie nach Hause geschickt.
Ob der Bericht schon da war? Sam hätte den Computer einschalten können, um es herauszufinden, aber er wollte die Ruhe vor dem Sturm nutzen, um noch einmal gründlich über den Fall nachzudenken. Sozusagen mit einem leeren Schreibtisch im Gehirn, auch wenn das in diesem Chaos nicht ganz einfach sein würde. Sam schloss die Augen und lehnte sich zurück. Hatten sie irgendetwas übersehen? Er suchte nach den Randnotizen ihrer Ermittlungen. Jene wenig ausgetretenen Pfade, die sich ihnen aufgetan hatten, aber die sie vielleicht nicht weiter verfolgten. Bei jeder Ermittlung gab es diese Abzweigungen, an denen man vorbeihechelte, weil es schnell gehen musste oder weil eine andere Spur zu dem Zeitpunkt noch verheißungsvoller erschien.
Was hatten seine Hände an dem Fundort von Tinas Leiche eiskalt werden lassen? Diese Frage konnte er noch immer nicht beantworten. Vor seinem geistigen Auge tauchten chronologisch Fragmente auf: das Video von Jessica von Bingen, die Leiche von Theresa Warren im Wald, das Licht zwischen den Baumwipfeln. Sam hatte für diesen fast meditativen Zustand lange geübt, sein Verstand arbeitete jetzt nicht mehr rein analytisch, sondern ebenso intuitiv. Für jeden Außenstehenden würde es wirken, als ob er schlief. Er verarbeitete die Routenpläne, glich sie mit seinen Erinnerungen ab. Was hatte Jay gemutmaßt? Er sah einen Mann in ein Haus gehen, gerader Gang, er trug ein schweres Paket. Das Haus war aus Beton, dicke Mauern, vielleicht aus Stein. Die Gegend war abgelegen, keine Menschenseele zu sehen. Es war Nacht. Ein Auto fuhr über einen löchrigen
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