Judaswiege: Thriller
Schönes zu denken. Die ersten Tage hatten nur aus Angst bestanden, irgendwann hatte sie erkannt, dass es so nicht weiterging. Sie würde verrückt werden vor Angst, wenn sie nicht etwas dagegen unternahm. Und so hatte sie begonnen, Fluchtpläne zu schmieden.
Seit sie nicht mehr an das unbequeme Bettgestell gefesselt wurde, stellte sie sich immer wieder vor, ihm mit der Eisenstange aufzulauern und ihm den Schädel einzuschlagen, wenn er ihr Essen brachte. Aber sie hatte keine Eisenstange, und auch sonst nichts, mit dem sie ihm den Schädel hätte demolieren können. So verwarf sie Fluchtplan um Fluchtplan. Als ihr kein neuer mehr einfiel, begann sie, in ihrer Erinnerung zu leben. Sie dachte an das Licht der Sonne, einen Tag im Mai, einen Ausflug mit ihren Eltern, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Manchmal kehrte die Angst schleichend zurück, dann wurde ihr bewusst, dass sie nackt im Verlies eines Wahnsinnigen saß.
Ob die Polizei schon nach ihr suchte? Sicher hatten sie ihr Auto gefunden, oder nicht? Aber wie weit war sie von zu Hause weg? Wer war der schreckliche Mann, der penetrant nach getrocknetem Rindfleisch roch? Er brachte ihr Essen, zweimal am Tag. Manchmal streichelte er ihr über die Haare, dann bewegte sie sich nicht. Vielleicht zitterte sie, aber sie wusste es nicht so genau. Wenn er sie streichelte, lief sie über eine taubehangene Wiese und sammelte Gänseblümchen und Pusteblumen. Wenn er den Raum wieder verließ, blies sie die Samen in den Wind und sah zu, wie sie davonschwebten. Sie waren frei. Das fand Tammy schön, und sie stellte sich vor, wie auch sie bald davonschweben würde, weg von diesem schrecklichen Ort.
Das Schlimmste aber war nicht der Mann, der so ekelhaft nach Beef Jerky stank, das Schlimmste war, wenn der Jüngere von beiden kam. Er glotzte sie an. Tammy sah nicht hin, aber sie wusste, dass er sie musterte, manchmal minutenlang. Das waren die Momente, in denen sie die Wiese in ihren Gedanken nicht fand. Sie saß in ihrem Verlies an der Wand und fragte sich, wozu der Abfluss war, den sie in der Mitte des Raumes ertastet hatte, eingelassen in die sauber verputzten Fugen. Das machte Tammy noch mehr Angst.
Sie hörte Stimmengemurmel direkt vor ihrer Tür. Meine Tür, dachte Tammy erschrocken. Sie gewöhnte sich daran, das musste aufhören. Das Gemurmel wurde lauter, und sie konnte einzelne Wortfetzen verstehen.
»… bald, hab noch ein wenig Geduld …« – der Ältere.
»Worauf warten wir noch? Du hast es doch versprochen …« – der junge Widerling.
Sie hörte, wie einer der beiden etwas Schweres abstellte, direkt vor ihrer Tür. Dann ging der Fernseher an, wie immer. Der Junge sah gerne fern, aber der Ältere schien sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Tammy freute sich darüber, dass er fernsah, statt zu ihr zu kommen und sie anzustarren. Sie zitterte, aber sie wusste auch, dass dies einer der wenigen Momente war, in denen sie mehr über ihre beiden Entführer herausbekommen konnte. Etwas, das ihr vielleicht zur Flucht verhalf, eine Kleinigkeit, die sie übersehen hatten. Ein Eisenrohr zum Beispiel. Tammy wünschte sich nichts sehnlicher als ein verdammtes Rohr. Damit die beiden sie nicht wieder auf das Bettgestell schnallen konnten. Niemals wieder. Hol dir das Eisenrohr, Tammy. Im Dunkeln tastete sie sich zentimeterweise vor, immer in Richtung des laufenden Fernsehers, den sie dumpf aus dem anderen Zimmer vernahm. Sie kroch auf allen vieren, um bloß kein Geräusch zu machen, setzte eine Hand vor die andere. Plötzlich spürte sie, wie ihr Atem zu ihrem Gesicht zurückfand. Sie hatte die gegenüberliegende Wand erreicht. Jetzt zwei Meter nach links. Sie versetzte ihr linkes Knie ein Stückchen und zog die Hände nach, vorsichtig, als balancierte sie am Rand einer tiefen Schlucht. Die dumpfen Geräusche wurden lauter. Im Fernsehen lief eine Talkshow. Vor der Tür hielt Tammy inne, versuchte zu verstehen, was gesprochen wurde. Endlich keine Stille mehr. Er wechselte das Programm: ein Musiksender. Das nächste: eine Nachrichtensendung. Plötzlich drehte er den Ton lauter. Tammy konnte jetzt ganz deutlich verstehen, über was die Reporterin sprach: Sie sprach von ihr, dämmerte es ihr nach ein paar Sekunden. Von ihr.
»… sucht das FBI nach wie vor fieberhaft nach der jungen Tammy Walker, die vor mehr als vier Tagen aus einem Camp am Lake Michigan verschwand. Heute trat das FBI erstmals vor die Presse, und Agent Klara Swell …«
»Hey«, schrie der Junge. Tammy
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