Judaswiege: Thriller
Kanzlei besaß keins. Stattdessen hatten sie mit Stahlstich handgeprägte Visitenkarten und eine Telefonanlage, die seit drei Jahren »Santa Claus is coming to Town« spielte, auch im Hochsommer. So gut der Ruf der Kanzlei auch war, einen gewissen Anachronismus konnte man Stein nicht absprechen. Ihr Chef wählte die Nummer aus dem Gedächtnis, es musste sich also um einen wirklich guten Freund handeln, schlussfolgerte Pia.
»Adrian, hier ist Stein. Leider erreiche ich Sie nicht persönlich, aber wir müssen uns sehen, so schnell wie möglich. Sind Sie in New York? Rufen Sie mich bitte zurück, die Nummer ist …«, Stein gestikulierte mit seinem Stock in ihre Richtung. Pia notierte ihre eigene Nummer auf einen Zettel und reichte ihn herüber. Stein nannte die Nummer und legte dann einfach auf, wahrscheinlich mochte er keine Anrufbeantworter oder war sie nicht gewohnt, mutmaßte Pia. Sie nahm das Telefon zurück und legte es in ihren Schoß. Danach schaute sie fragend zu Stein hinüber, aber er hatte sich schon wieder in seine Akten vertieft.
Etwa zwanzig Minuten später betraten sie die Kanzlei an der altehrwürdigen Upper East Side. Das viktorianische Stadthaus beherbergte in der Beletage die Kanzlei, in den oberen beiden Stockwerken wohnte Stein selbst. Er war auch insofern ein ungewöhnlicher Anwalt, als er sich trotz der dicken Honorare, die er zweifelsohne einstrich, keine Sekretärin leistete. Pia war seine einzige Mitarbeiterin. Deshalb schloss sie die Haustür auf, die in das Treppenhaus führte, das sich wie eine eng gewundene Schlange durch das keineswegs riesige Haus zog.
Dennoch war Pia klar, dass es auf dem Markt mindestens fünfzehn Millionen Dollar bringen würde, aber den New Yorker Häusermarkt verstand seit der Immobilienkrise ohnehin niemand mehr. Stein wippte schon ungeduldig mit den Knien, und Pia beeilte sich, die Tür zur Kanzlei zu öffnen. Stein schritt voran über den dunklen Holzboden. Ihr Büro bestand nur aus drei Zimmern. Besucher betraten zunächst den großen Empfangsraum, an dessen Wänden alte Gemälde hingen. Wuchtige Sessel, bezogen mit schwerem grünem Leder, thronten darunter, auf kleinen Tischen standen Aschenbecher neben Zeitschriften über Polo und Segeln.
Stein zog sich ohne Umschweife in sein Büro zurück, einen riesigen Raum, der an eine Bibliothek erinnerte. Pia hängte ihren Mantel an die Garderobe und betrat ihr eigenes Arbeitszimmer. Obwohl deutlich kleiner als das von Stein, fühlte Pia sich dort recht wohl. Die altbackene, aber ehrwürdige Einrichtung half ihr, die Arbeit vom Privatleben zu trennen. Einzig die nackten Wände störten sie ein wenig. Zum wiederholten Male nahm Pia sich vor, endlich Bilder aufzuhängen, um dem Raum wenigstens den Hauch einer persönlichen Note zu geben, als ihr Handy klingelte. Sie meldete sich mit ihrem vollen Namen.
»Miss Lindt, ich habe diese Nummer von Thibault Stein. Oder habe ich mich verwählt?«, fragte eine äußerst angenehme Männerstimme. Pia schluckte, das musste der wichtige Klient sein, mit dem sich Stein treffen wollte. Oder hatte er ihn nicht sogar als alten Freund bezeichnet?
Sie räusperte sich: »Nein, nein. Sie sind bei mir durchaus richtig. Ich bin Pia Lindt, Steins neue Assistentin. Er hat Sie von meinem Handy aus angerufen.«
»Hat er sich etwa immer noch kein eigenes besorgt?«, tadelte die attraktive Männerstimme. Er klang amüsiert. »Wissen Sie, warum er mich treffen will?«
»Leider nein, Herr …«
»Von Bingen. Verzeihen Sie, ich habe mich nicht vorgestellt. Mein Name ist Adrian von Bingen.«
»Also, Herr von Bingen. Mit dieser Information kann ich leider nicht dienen, aber ich kann Sie gerne mit Herrn Stein …«
»Das wird nicht nötig sein, Miss Lindt. Sagen Sie Thibault, dass ich in der Stadt bin und heute Abend bei ihm vorbeikomme. Sagen wir um 20 Uhr? Wäre Ihnen das recht?«
Im Hintergrund hörte sie, wie Metall auf Metall schlug, woraufhin ein Mann einige sehr unanständige Flüche auf Spanisch von sich gab.
»Ehrlich gesagt, Herr von Bingen, das weiß ich nicht … Der private Kalender ist …«
»Sagen Sie ihm doch bitte, er möge mich anrufen, wenn es ihm nicht passt … Ich muss los, die Gäste warten. Es hat mich sehr gefreut, Sie am Telefon kennengelernt zu haben, Miss Lindt.«
Pia blickte mit hochgezogenen Brauen auf das Telefon und drückte die Taste, um die Verbindung zu unterbrechen. Sie hatte noch nie von diesem Klienten gehört, er klang überaus freundlich. Nein,
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