Judaswiege: Thriller
nach Norden. Der Geschwindigkeit nach zu urteilen, ist sie zu Fuß unterwegs. Eine genaue Lokalisierung ist aufgrund der Masten nach wie vor nicht möglich, ich wiederhole, nicht möglich«, vernahm Klara Wesleys Stimme, die durch den UKW-Funk leicht verzerrt wirkte, aber deutlich zu verstehen war.
»Roger Beagle«, bestätigte ein Mann, von dem Klara vermutete, dass es sich um den Leiter des Sonderkommandos handelte. »Beagle« war der Rufname der zentralen Koordinierungsstelle des Einsatzes, in ihrem Fall Sams Team. Bei Dunkelgelb nahm sie eine Ampel an der Broome Street. Sie erreichte langsam die Nähe des Einsatzortes, konnte schon die ersten Geschäfte, deren Schilder ausschließlich chinesische Schriftzeichen trugen, erkennen.
Klara parkte in einer Seitenstraße, von der sie ohne Ampel sowohl den Broadway als auch eine Straße crosstown erreichen konnte. Dies sicherte ihr im Fall einer Verfolgung die bestmöglichen Chancen, an Pia dranzubleiben, auch wenn sie das Verkehrsmittel wechselte. Klara schloss den Wagen ab, deaktivierte das Mikrofon ihres Handys und steckte es in die Hosentasche. Über den Kopfhörer konnte sie weiterhin Wesleys Anweisungen verfolgen, und sie hatte ohnehin nicht vor, sich in die Diskussion einzumischen.
»Zielperson ist jetzt in etwa auf Höhe der White Street«, verkündete Beagle. Das war keinen Häuserblock von Klaras Standort entfernt. Sie joggte zur nächsten Straßenecke und verfiel dann in den langsamen Trott der Menge, die sich wiegend durch die Straßen schob, vorbei an Geschäften, deren grellbunte Preisschilder allerlei Markenwaren zu scheinbar unglaublichen Preisen feilboten. Natürlich handelte es sich allesamt um Fälschungen von Taschen, Uhren und Parfums. Gucci, Prada und Rolex stapelten sich in meterhohen Türmen, dazwischen T-Shirt-Shops und chinesische Supermärkte, Massagesalons und fernöstliche Apotheken, die eigentümliche Hausmittel feilboten.
Klara blickte sich um: von Pia keine Spur. Allerdings wäre sie in der bunten Menschenmenge, die hauptsächlich aus Touristen und Asiaten bestand, auch kaum auszumachen gewesen, es sei denn, man stand direkt neben ihr. Dennoch musste Klara aufpassen: Ein Verfolger von Pia würde eine Person, die allzu neugierig war, dennoch schnell bemerken, denn die meisten Touristinnen, für die sie zweifelsfrei gehalten wurde, interessierten sich nur für die bunten Schaufenster und Auslagen, amüsierten sich hier über ein T-Shirt und drehten dort einen Lampion mit Goldfischaufdruck.
Klara musterte die Auslage eines Fischhändlers. Einige der angebotenen Delikatessen hatte sie noch nie zuvor gesehen, und sie schienen ihr auf einer Genießbarkeitsskala auch nicht unbedingt weit oben zu rangieren: Glibberige Seegurken lagen grau neben langsam die Gliedmaßen ausstreckenden Softshell-Crabs. Klara schauderte zum Schein. Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Menge vor ihr.
»Zielperson ist offenbar stehen geblieben«, meldete Wesley.
»Kein Kontakt, Beagle«, meldete die Spezialeinheit.
»Zugriff nur auf meine Anweisung«, erinnerte Sam die Kollegen. Klara blickte auf das Straßenschild an der nächsten Ecke. Genau hier sollte sie sein. Aber wieso konnte sie Pia nirgendwo entdecken? Sie umging die dicke Menschentraube, die an der Ampel auf Grün wartete, und stellte sich an den Rand des Bordsteins. Scheinbar genervt blickte sie auf die andere Straßenseite, aber in Wahrheit beobachtete sie die Passanten mit Argusaugen, als ihr plötzlich eine Frau auffiel, die seltsam steif und langsam, irgendwie übervorsichtig lief. Der blonde Haarschopf war unverkennbar: Pia. Sie stand mit dem Rücken zu ihr, etwa zehn Meter von der Kreuzung entfernt. Und sie zog ein Handy aus der Tasche. In ihrem Kopfhörer knackte es.
»Sie telefoniert«, meldete Wesley. »Ich werde das Telefonat mitschneiden und direkt an euch übertragen, wenn es recht ist.«
Und ob, dachte Klara und bemühte sich, nicht zu Pia hinüberzustarren.
»Ja?«, drang Pias verzweifelte Stimme aus ihrem Kopfhörer.
»Nimm ein Taxi nach Queens«, forderte eine ruhige Stimme.
»Aber«, versuchte Pia zu widersprechen.
»Kein Aber, du weißt, dass ich die Bombe zünde, wenn du nicht gehorchst.«
Klara blickte sich verzweifelt um, konnte jedoch keinen Verfolger erkennen. Vielleicht der junge Mann mit der Baseballmütze, der sich am Kopf kratzte und ein Handy ans Ohr hielt? Nein, entschied Klara. Viel zu auffällig. Sie wechselte die Straßenseite und hatte Pia fast erreicht.
Weitere Kostenlose Bücher