Judaswiege: Thriller
Beinen gefesselt in einer Pfütze lag. Im Hintergrund warfen flackernde Kerzen Schatten an die Wand, was die schlechte Qualität erklären mochte. Ihr dunkles Haar wirkte ebenso stumpf wie der kahle Steinboden und die kalten Wände aus Beton. Auf der zweiten Aufnahme blickte sie wütend in die Kamera, auf ihrem Bauch waren rote Striemen zu sehen, und ihr Gesicht war von Tränen verquollen. Auf dem dritten Foto war Jessica von Bingen gestorben, ihre Augen starrten tot aus ihren Höhlen.
Klara ließ sich zurück auf die Matratze fallen. Ihr war übel, die Bilder waren schrecklich. Sie hatte als ehemalige FBI-Agentin schon viele Tote gesehen, aber niemals mit den Augen ihres Mörders. Die Polizei begutachtete das Ergebnis und zog ihre Schlüsse daraus, aber diese Bilder zeigten die Stunden davor.
Klaras Gehirn ergänzte unweigerlich, was er zwischen den Tränen und ihrem Tod mit ihr gemacht haben musste. Was dachte Sam darüber? Und vor allem: Hatten sie dem Anwalt das gesamte Material übergeben oder ihn nur mit dem Nötigsten abgespeist? Ihr haltet sicher mit etwas hinter dem Berg, vermutete Klara. Das tut ihr doch immer. Also, Sissi: Zeit, eine Entscheidung zu treffen, ermahnte sie sich.
Die Fakten liegen auf dem Tisch, es wird nicht einfacher als jetzt. Ja, ja, antwortete sie sich selbst. Du kannst einfach Nein sagen, Sissi, vergiss das nicht. Andererseits war das Leben als Kellnerin nicht gerade ein Lebenstraum für eine neunundzwanzigjährige Frau, die ihre Akademieklasse unter den besten zwei Prozent abgeschlossen und früher zu den besten Ermittlern des FBI gehört hatte. Illegalen Ermittlerinnen, korrigierte sich Klara.
Vielleicht musste sie Sam gar nicht begegnen? War es nicht möglich, dass sie die Sache auf ihre Art erledigte? Lautlos, ohne viel Aufhebens? Möglich wäre es.
Klara stand auf und lief in die kleine Kammer, die sie als Wohnzimmer bezeichnete. Vor dem Schrank, in dem sie ihr früheres Leben verstaut hatte, hielt sie einen Moment inne. Komm, Sissi, du hast dich doch längst entschieden.
Der Schrank war alt, sie hatte ihn bei einem Möbelladen in der Bronx für fünfundzwanzig Dollar gekauft, die Holztüren hingen windschief in den Angeln, und er knarzte, wenn man ihn öffnete. Im mittleren Fach standen ihre alte Nähmaschine und die verbliebenen Stoffballen, daneben ihre geliebten Messer. Sie strich über das atmungsaktive Lycramaterial, aus dem sie ihre Uniform fertigte. Keine offizielle natürlich, sondern die spezielle Kluft der Einbrecherkönigin Klara ›Sissi‹ Swell: eine schwarze zweite Haut, die verhinderte, dass sie dort, wo sie sich umsah, DNA-Spuren hinterließ.
Klara hatte sie selbst entwickelt, etwas Vergleichbares gab es nicht zu kaufen. Der Stoff war die Sonderanfertigung einer Firma, die sonst Taucheranzüge herstellte, aber viel leichter, beinah wie ein Turnanzug, und sie nähte sie selber, für jeden Einbruch einen neuen. Ihr letzter lag über fünf Jahre zurück, aber heute Abend würde sie einen anfertigen.
Als sie die Nähmaschine auf den Küchentisch hievte, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie weit sie sich von ihrem früheren Leben entfernt hatte. Dann machte sich Sissi daran, ihre zweite Chance zu schneidern.
—
Eine Woche später wartete eine große altmodische Limousine mit laufendem Motor vor ihrer Haustür und spuckte eine obszöne Menge Abgase aus. Ein paar Jungs aus der Gegend saßen auf der Bank im Hauseingang und staunten mit großen Augen, als Klara ihren Rucksack auf den Rücksitz schmiss und der Fahrer die Tür hinter ihr zuschlug. Sie zwinkerte ihnen zu und winkte.
Thibault Stein begrüßte sie mit einem Kopfnicken: »Guten Morgen, Miss Swell. Hatten Sie eine angenehme Nachtruhe?«
Was glaubst du wohl, nachdem du mir eröffnet hast, dass sich heute entscheidet, ob meine Bewährung ausgesetzt wird? Nein klar, ich habe grandios geschlafen. Genau eine Stunde und vier Minuten grandioser Tiefschlaf mit Albträumen.
»Ja, danke«, antwortete sie.
Steins Assistentin Pia Lindt warf ihr vom Beifahrersitz einen Blick zu und streckte ihren Daumen hoch. Sie konnten sie nicht hören, da der vordere Teil des Wagens durch eine dicke Glasscheibe abgetrennt war. Klara lächelte zurück. Stein hatte begonnen, einen riesigen Stapel Papier zu durchforsten, er schien konzentriert.
Als sie die Houston Street erreicht hatten, traute Klara sich dennoch, die Frage zu stellen, die ihr am meisten unter den Nägeln brannte: »Wie wollen Sie es eigentlich anstellen,
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