Judaswiege: Thriller
hörte Schritte auf den Steinen.
Madison blickte starr geradeaus, unfähig, sich zu rühren. Sie klammerte sich mit den Händen ans Lenkrad, die Knöchel traten weiß hervor. Wieder hörte sie die Schritte auf dem Kies, begleitet von einem Keuchen, als ob jemand in eine Tüte atmete. Sieh nicht hin, Madison, sieh nicht hin. Vielleicht verschwindet er einfach. Ihre Knie schlugen gegeneinander, sie hatte die Kontrolle über ihre Gliedmaßen verloren. Ihre Angst war größer, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.
Die Fahrertür wurde geöffnet, es roch nach Gummi und aseptisch, wie im Krankenhaus. Wieder das Keuchen. Beim Ausatmen rasselte seine Lunge, beim Einatmen pfiff sie. Sie spürte, dass er neben ihr stand und sie ansah. Er sah sie von oben bis unten an. Immer noch hielt sie das Lenkrad umklammert. Aber sie musste hinschauen. Jetzt, Madison. Nein, lass es. Schau nicht hin, guck einfach nach vorne, das ist das Beste. Doch, Madison. Du musst. Sie nahm all ihren Mut zusammen und riss den Kopf nach links.
Sie starrte in eine graue Fratze mit zwei kleinen Scheiben aus Glas an der Stelle, wo die Augen hätten sitzen sollen. In der Hitze der Wüste klatschten ihre Schenkel so laut unkontrolliert gegeneinander, als wollten sie Beifall spenden. Wie bei einem Elefanten baumelte ein Schlauch aus seiner Mundhöhle, das Gesicht war komplett mit Gummi verhüllt. Die Glasaugen starrten sie an. Das Keuchen drang ruhig aus dem Schlauch, viel zu ruhig. Madison wurde schlecht. Ganz ruhig trat er noch einen Schritt näher, nahm den widerlichen Schlauch in die Hand und hielt ihn vor ihr Gesicht.
»Ich kann deine Angst riechen, Madison«, drang eine Stimme aus dem Schlauch. »Cchhhh … Cchhhh«, röchelte es. »Du riechst gut, Madison.« Eine Männerstimme, seltsam verzerrt.
Die Glasaugen reflektierten die Sonnenstrahlen. Ein Gummihandschuh griff nach ihrem Arm. Sie warf den Kopf zur Seite. Nein, bitte nicht. Tränen liefen ihr über das Gesicht, sie schmeckten salzig. Die Hand kam näher, strich ihr über den nackten Unterarm. Das Gummi stockte beim Berühren ihrer Haut, als gehöre es da nicht hin. Sie saß einfach da, unfähig, sich zu rühren, als der Mann ihr Handgelenk umklammerte und die Nadel einer Spritze auf ihrer Vene ansetzte.
»Es wird nicht wehtun, Madison. Wir sehen uns später«, flüsterte die Stimme und pumpte eine milchige Flüssigkeit in ihre Blutbahn.
Ihre Beine zuckten noch immer unkontrolliert, als sich ein wohliges Gefühl in ihr ausbreitete, sie fiel wie auf einen weichen Teppich. Sie spürte noch, wie die Gummihand ihre Wange streichelte. Kurz stieg Ekel in ihr hoch, dann blieben ihre Beine still.
K APITEL 6
Mai 2011
East Village, New York
In ihrem Appartement im East Village, dem Stadtteil der Latinos, der Lebenskünstler und vieler Studenten der nahen New York University, saß Klara in der Küche, die Füße auf der Tischplatte. Sie wippte auf ihrem Stuhl, eine dampfende Tasse Tee in der Hand; sie hatte einige wichtige Entscheidungen zu treffen.
Nachdem der kleine alte Mann mit seiner sogenannten Assistentin wieder abgezogen war, hatte sie ihre Schicht regulär beendet. Schließlich wusste sie noch gar nicht, ob sie das verlockende Angebot annehmen konnte. War sie überhaupt bereit dazu? Wollte sie wieder mit ihren ehemaligen Kollegen arbeiten? Mit Sam und Marin?
Sam Burke, ihr Expartner, war dabei das größte Problem, denn er hatte sie im wichtigsten Moment ihrer Karriere fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Als sie mit dem Rücken zur Wand stand, hatte er nur zugesehen, dabei war es eine gemeinsame Operation gewesen. Natürlich hatte Klara alleine über der Reisekostenabrechnung des Senators gekauert, nachdem sie illegal in seine Villa eingedrungen war, um die Beweise zu finden, die ihnen fehlten. Das war ihre Methode gewesen: Klara, die Einbrecherkönigin von New York, in den Diensten des FBI. Sie sammelte ohne offizielle Befugnis Erkenntnisse, die sie später auf legalem Weg zum zweiten Mal »erwarben«. Da wussten sie dann, wonach sie suchen sollten.
Natürlich war das dem Gesetz nach absolut illegal und inakzeptabel, was ihr der Richter auch unmissverständlich klargemacht hatte. Aber das ganze Bureau hatte angesichts ihrer unglaublichen Erfolgsquote weggeschaut. Und du, Sam, hast zugesehen, wie sie mich fertiggemacht haben.
Andererseits grenzte das, was der kleine Anwalt da vorschlug, an einen kleinen Lottogewinn: Stein war sicher, dass er ihre
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