Judaswiege: Thriller
immer wieder den Kopf und gestikulierte wild mit den Armen. Was dachten die drei sich da aus? Schließlich ging es um ihr Schicksal, monierte Klara. Sie schlug die Beine übereinander, und die elektronische Fußfessel an ihrem Knöchel erinnerte sie wieder einmal daran, was für sie auf dem Spiel stand. Als Stein nach einer gefühlten Ewigkeit zu ihnen zurückkehrte, sah er gar nicht glücklich aus.
»Es tut mir leid, Klara«, bemerkte er geradeheraus.
»Es hat nicht geklappt?«, fragte Klara.
»Nun ja. Doch, in gewisser Hinsicht schon. Sie konnten gar nicht anders, als die vielen Kleinigkeiten als minderschwere Misshandlungen anzuerkennen und sie auf Ihre Haftstrafe anzurechnen, aber wir streiten uns um den Faktor. Und es sieht so aus, als würde Richter Green in diesem Punkt den Einwänden des Staatsanwalts stattgeben.«
»Und das bedeutet?«, fragte Pia an ihrer statt.
»Das bedeutet, Miss Swell«, sein pastoraler Gesichtsausdruck wich dem verschmitzten Grinsen, »dass Sie leider noch eine weitere Woche offiziell auf Bewährung absitzen müssen.«
Klara hätte ihn am liebsten umarmt. Eine Woche war im Vergleich zu weiteren vier Jahren ein Nichts. Kein Problem. Sie lachte herzlich, und auch Pia schien sich sehr für sie zu freuen, sie drückte ihr die Hand.
Eine Justizbeamtin trat an den Tisch.
»Und«, verkündete Stein, »ich habe den Richter davon überzeugen können, Sie in meiner väterlichen Obhut und mit einer persönlichen Bürgschaft meinerseits gegenüber Euer Ehren bereits heute von Ihrer Fußfessel zu befreien.«
Er nickte der Beamtin zu. Als sie keine Minute später das Schloss öffnete und den blinkenden Reif von ihrem Bein entfernte, liefen Klara Tränen über die Wangen, und Pia strahlte sie an.
K APITEL 7
Juni 2011
North 5th Street, Brooklyn (Williamsburg), New York
Thibault Stein hatte Pia Lindt gebeten, Adrian persönlich vorzutragen, wie ihre Pläne für das weitere Vorgehen aussahen. Nicht, dass sich Pia dagegen gewehrt hätte. Sollte der alte Knochen am Ende emotional intelligenter sein, als er vorgibt?, überlegte sie, während sie die steile Treppe der U-Bahn-Station an der Metropolitan Avenue hinaufstieg.
Pia war seit Ewigkeiten nicht mehr in Brooklyn gewesen. Wozu auch? Sie wohnte auf Höhe der Kanzlei in einer kleinen, aber durchaus schicken Wohnung an der Upper West Side, die sie seit der Trennung von John gerade so von ihrem Gehalt als Steins Assistentin finanzieren konnte. Und wer in Manhattan wohnt, fährt selten in einen anderen Stadtteil. Außer vielleicht am Wochenende nach Coney Island, den Stadtstrand von New York mit seinen Schaubuden und Fahrgeschäften aus den Fünfzigerjahren. Ein ähnlicher Anachronismus wie Stein, vielleicht liegt es an der Stadt, sinnierte Pia. Die schillernde Finanzmetropole und selbsternannte Hauptstadt der Welt auf der einen, eine tief verwurzelte Spießigkeit auf der anderen Seite. Vielleicht machte gerade diese krude und bisweilen neurotisch anmutende Mischung die ganz besondere Faszination von New York aus.
Trotz alldem überraschte sie die Gegend um die 5th Street positiv, als sich ihre Augen blinzelnd an die grelle Sonne unter freiem Himmel gewöhnten: Das hier sah gar nicht aus wie das heruntergekommene Brooklyn, das sie aus Filmen kannte. Der Stadtteil wirkte überaus freundlich, viel heller als Manhattan und irgendwie auch viel entspannter.
Auf der anderen Straßenseite hängte ein schmächtiger junger Mann gerade ein Schild an einen frisch renovierten Laden: ›Lettuce B. Friends‹ stand in moderner Typografie und knalligem Grün auf weißglänzendem Email. Pia schmunzelte über das Wortspiel: Hier bot ihr doch tatsächlich jemand eine Grünzeug-Freundschaft an.
Ein paar Meter weiter wurde gerade ein vergammelter Brownstone renoviert. Das ganze Viertel roch nach frischer Farbe und Aufbruch. Irgendwie kreativ, fand Pia. Sie schlenderte an den kleinen Geschäften vorbei, merkte sich einen Schuhladen mit für ihre Verhältnisse sehr modischen Modellen und genoss dabei die Frühlingssonne. Vielleicht sollte ich hierherziehen, überlegte sie gedankenverloren. Weg aus dieser angestaubten Upper-West-Atmosphäre mit dem uralten New Yorker Geldadel, der einen mit jedem Blick spüren ließ, dass man niemals dazugehört hatte und auch niemals dazugehören würde.
Adrian von Bingens Wohnung befand sich in dem baufällig anmutenden, gelb gestrichenen Gebäude mit der Nummer 125. Typisch New York, an einer Straßenecke frisch
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